Das NKWD/SMAD-Lager Ketschendorf

Bereits ab Kriegsende wurden Speziallager der SMAD und des NKWD geschaffen, wo vor allem Kriegsgefangene, Naziverbrecher aber auch viele unschuldige interniert waren.. Diese Lager basierten auf Alliierten-Recht, nachdem in allen Besatzungszonen durch die Siegermächte Internierungslager errichtet werden durften, die für die „Aufbewahrung“ von Personen gedacht waren, die den „Aufbau“ der „neuen Gesellschaft“ stören könnten, bzw. verbrechen begangen hatten.

In einer ehemaligen Arbeitersiedlung der Deutschen Kabel-Werke im heute zu Fürstenwalde gehörenden Ort Ketschendorf wurde im Mai 1945 vom NKWD das „Speziallager Nr. 5“ eingerichtet. Nach Vernichtung aller Möbel und Einrichtungsgegenstände in sechs Häusern mit je neun Zweizimmerwohnungen sowie in mehreren Einfamilienhäusern trafen die ersten Häftlinge in kleineren und größeren Gruppen zu Fuß im Lager ein. Interniert wurde anfangs gemischt, später dann getrennt nach Alten, Frauen, Männern, Jugendlichen. Es gab dort auch Weißrussen, die auf der Seite der Wehrmacht gekämpft haben. Durchschnittlich befanden sich 6000 Gefangene in Ketschendorf, vor allem Verhaftete aus Berlin und der Mark Brandenburg. 1946 stieg diese Zahl auf 10000 an. Wesentlich ist zu bemerken, daß dieses Lager nicht nur mit, als Nazis bekannten, Personen gefüllt wurde. Neben etlichen Kriegsgefangenen lieferte der NKWD auch sowjetische Zivilisten („0starbeiter“) ein. Gründe für die Verhaftung waren oft für die Bevölkerung nicht durchschaubar und wirkten willkürlich. Berüchtigt war Ketschendorf vor allem wegen seiner hohen Zahl von gefangenen Jugendlichen (mehr als 1600), die unter „Werwolf“-Verdacht dorthin verschleppt wurden.

Die Taktik der Vernichtung bestand nicht in Schläge, Folter, Vergasen, sondern im sich nicht kümmern. Das Lager wurde ab Nov. 1945 von einer deutschen Lagerleitung, aus ehemaligen NSDAP-Polizeioffizieren übernommen. Und da erst begannen die Schikanen verschiedenster Art gegen die Inhaftierten. Die Internierungen erfolgten ohne Verfahren, Urteil, Möglichkeiten der Verteidigung. Angehörige wurden nicht benachrichtigt und die Inhaftierten galten als vermißt. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal.

Über die zustände in Kätschendorf berichtet Kurt Noack, Jahrgang 1930. wie viele seiner Altersgefährten mußte er in den letzten Kriegsmonaten in Hitlers „Volkssturm“ dienen. Zum Einsatz gegen die Rote Armee kam er selbst nicht mehr. Zusammen mit rund 1600 vierzehn- bis achtzehnjährigen Altersgenossen wurde der aus Groß-Kölzig stammende Jugendliche im Herbst 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in das Internierungslager Ketschendorf verschleppt. Die Jungen wurden beschuldigt, der faschistischen Werwolf-Organisation angehört und Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen zu haben. Mit von Schlägen begleiteten Verhören in NKWD-Kellern begann für Noack ein dreijähriger Leidensweg durch die Lager Ketschendorf, Jamlitz und Buchenwald:

„…Grünbemützte Posten führten unsere Gruppe durch eine `Schleuse in eine von Stacheldraht, Wachtürmen und einem Bretterzaun umgebene Wohnsiedlung aus zweigeschossigen Häusern: das Lager Ketschendorf.

Wir mußten nackt an Russen in weißen Arztekitteln vorbeimarschieren und wurden gefilzt. Danach brachte man uns zum Entlausen in den Keller eines Hauses am Ende des Lagers. Hier hatte ich den ersten entsetzlichen Eindruck. Nackte, abgezehrte Gestalten saßen da und warteten auf ihre dünne, abgerissene Kleidung, die sich in der Hitze einer Entlausungskammer befand. Es waren Gefangene, die schon seit Wochen und Monaten, vielfach seit dem frühen Sommer dem Hunger ausgesetzt und in der Mehrheit von Krankheit und den unmenschlichen Lagerbedingungen gezeichnet waren. Alle waren an Kopf und Körper kahlgeschoren. Wer von den Neuankömmlingen noch nicht glatzköpfig war, verlor hier seine Haare. Der Anblick der Gestalten in dieser Entlausung zählte zu den nachhaltigsten Eindrücken, die ich in der ersten. Zeit im Lager gewann. Nie zuvor sah ich so etwas. Ich fand ähnliches später nur in den Bildern aus Nazi-KZs wieder.

Die Temperaturen bei der Entlausung reichten in der Regel nicht aus, um alles Ungeziefer zu töten. Oft genug hatten wir später den Eindruck, daß die Läuse durch die Wärme schneller a.us den Nissen krochen, sich die Plage mit allen Arten von Ungeziefer am Körper und in der Kleidung durch die sich in Abständen wiederholenden Entlausungen nur noch vergrößerte. Kleider- und Kopfläuse, Flöhe und Wanzen wurden wir nicht los. Andererseits machten die Entlausungen unsere Kleidung brüchig und verkürzten ihre Lebensdauer. Zum Zeitpunkt meiner Einlieferung mögen reichlich dreißig Jugendzüge im sogenannten Haus l existiert haben. Diese Zahl erhöhte sich bis Jahresende durch Zugänge aus den verschiedenen GPU-Dienststellen des Ketschendorfer Einzugsgebietes um etwa weitere vier bis fünf Züge. Jeder Zug bestand aus fünfzig Mann, so daß sich zu dieser Zeit etwa 1600 Jugendliche in Ketschendorf befunden haben mögen – in einem Haus mit zwei Eingängen und jeweils sechs Wohnungen mit Kellern. Während der ersten Tage fand ich nur einen Platz auf der oberen Treppe im schon kalten Hausflur. Auf den Treppenstufen schlief ich auch.

Dann wurde ich dem Keller 7 zugeteilt. Mein erster Kelleraufenthalt dauerte nur wenige Tage. In Kellern lag ich dann nochmalsfür längere Zeit im Sommer des folgenden Jahres. In jedem der größeren Räume und den Kellern, kaum größer als jeweils achtzehn Quadratmeter, lebten in unbeschreiblicher Enge vierzig bis fünfzig Mann. Die kleinen Küchen boten Platz für rund fünfzehn Mann. Zu jeder von uns belegten Wohnung gehörte ein Badezimmer mit Klo und Badewanne, in der sich das Wasser zum Spülen befand. Von ihm wurde leider auch getrunken, wenn Not war für die, die durch Krankheit und Hunger ihren Widerstandswillen bereits verloren hatten und schwach geworden waren. Das führte immer zur Ruhr mit ihren unerbittlichen Folgen, ihrem fast aussichtslosen Verlauf, Ein Beispiel dafür war ein Fabrikantensohn aus Witten-berge, der nach dem Genuß fauliger Mohrrüben aus dem gefrorenen Abfall vor der Küche von diesem Wasser trank und danach nur noch Tage lebte.

Wir hatten in allen Räumen gerade Platz genug, wie in einer Sardinenbüchse nachts auf der Seite zu liegen und uns gemeinsam umzudrehen, wenn dazu von jemandem der Ruf kam. Eine gewisse Auflockerung trat 1946 ein, als wir aus altem Material eines abgerissenen Kriegsgefangenenlagers drei Stock hohe Pritschen, Regalen gleich, bauen durften. Viele hatten durch das Liegen auf den bloßen Brettern und Dielen oder auf dem Betonboden der Keller durchgelegene Stellen am Körper, die zu großen braunen Flecken auf der Haut, vor allem über Schlüsselbein und Beckenknochen, wurden. Bei einem meiner Freunde stellten sich mit der Zeit erhebliche Deformierungen des Körpers ein. Die Knochen gaben dem harten Fußboden nach.

Tagsüber mußte zur Verrichtung der Notdurft der Donnerbalken hinter den Häusern aufgesucht werden. Das war eine überdachte lange Grube, vor der ein Balken als Sitz angebracht war. Später gab es eine Änderung auf eine Art französi-scher Technologie. Nach dieser Methode wurde die ganze Grube mit einer Bretterschalung überdeckt, in die runde Löcher mit entsprechendem Durchmesser eingeschnitten waren. Die verbesserte Technologie hatte allerdings den schmerzenden Nachteil, daß beim Hocken die die meisten Jugendlichen plagende Eiterborke am Gesäß riß, der Eiter zwar abtropfte, sich aber die Erreger neu verbreiten konnten und die Kleidung immer mehr verschmutzte. Papier befand sich unter uns Häftlingen nicht das allerkleinste Stück. Was der Mensch für die Toilette braucht, verrichtete bei vielen ein kleiner Lappen, der nach seiner Benutzung zusammengerollt und wieder in die Tasche gesteckt wurde.

Mit dem Abtransport von knapp 2000 im Lager befindlichen Russen aus der Armee des Überläufer-Generals Wlassow am 28. November lockerte sich die Enge etwas. Die kleinen Häuser an der Lagerstraße wurden dadurch für uns frei. Tausend Gerüchte gingen mit diesem Transport einher, wie später noch so oft. Viele Möglichkeiten waren im Gespräch. Die meisten glaubten an einen Transport aller in Richtung Rußland. Andere meinten, daß wir Weihnachten wieder zu Hause sein würden. So oft solche Parolen auch Hoffnung auslösten, so oft bedrückten sie uns, wenn die Hoffnungen zerrannen. Dennoch gehörten sie zum Lageralltag, sie hielten uns immer in Spannung. Beispielsweise lief immer wieder das Gerücht durchs Lager, daß die Entlassungsscheine schon da wären, man wußte sogar, welche Farbe sie hatten. Für die Kranken und Schwachen bedeutete das einen Strohhalm, an den sie sich mit den verbliebenen Kräften klammern konnten. Es bedeutete aber auch oft das schnelle Ende, wenn nicht eintrat, was erträumt wurde.

Hier, in den kleinen Häusern, stieß ich auf den ehemaligen NSDAP-Kreisleiter von Sorau/Forst, Erich Najork aus Noßdorf. Ich wußte von seiner Zuständigkeit für die Morde an kriegsmüden Soldaten in Forst, die ich am Galgen sah. Najork zählte 1947 zu den Toten von Mühlberg. Der Winter rückte heran, Weihnachten kam näher, die Stimmung sank. Der erste Winter brachte Kälte und Finsternis in die Unterkünfte. Holz war knapp. Mit Glühbirnen mußte sorgsam umgegangen werden. Wir saßen herum oder hielten uns in Bewegung, beschäftigten uns irgendwie und froren dabei redeten vom Essen und erzählten von zu Hause. Noch immer glaubten wir daran, daß die Sorge unserer Mütter um ihre verschwundenen Söhne keine Ewigkeit dauern würde.

Früh warteten wir in Gruppen auf Brot, das, in einer Decke getragen, nach dem Zählappell zugweise geholt werden mußte und nicht selten von Ratten angefressen war. Das Teilen kam einer Zeremonie gleich. Sechs Mann teilten sich ein Brot. Einzige gewohnte Beigabe war neben Kaffee ein Löffel Zucker, überwiegend von der ungereinigten braunen Qualität. Das Brot wurde hauptsächlich mit selbstgebautem Werkzeug zerlegt. Wir bedienten uns dazu eines Drahtes, an dessen beiden Enden je ein Holzgriff zum Anfassen befestigt war, oder eines aus angeschärftem Blech selbstgefertigten Schneidewerkzeuges. Insbesondere der Besitz eines solchen Blechs war streng verboten. Deswegen mußte es sorgsam versteckt gehalten werden. Einer meiner Kölziger Kameraden wurde bei der Benutzung eines dieser „Messer“ von Knoke, dem Hauskommandanten, durch das Fenster beobachtet und bestraft. Zehn Tage mußte er dafür in den Bunker.

Eine solche Strafe konnte den Tod bedeuten, wenn sie einen schon nicht mehr Gesunden traf, weil es neben dem einen täglichen schmalen Stück Brot während dieser Zeit nur einmal, am fünften Tag, warmes Essen gab. Es war außerdem nicht gestattet, Decke oder Mantel mit in den Keller zu nehmen, um sich vor dem bloßen Betonboden zu schützen. Unangemessene Strafen für Kleinigkeiten waren von den Russen gewollt und wurden vom deutschen Häftlingspersonal gewissenhaft und rücksichtslos ausgeführt. In diesem Fall überstand das Opfer den Bunker, doch der besagte Kamerad war nach zehn Tagen kaum wiederzuerkennen.

Mittags holten Essenholer jedes Zuges einen Kübel Grützsuppe, die vom Essenausgeber, meist dem Zugführer, verteilt wurde. Abends wurde nochmals Suppe verteilt, die genauso dünn wie mittags war. Die in der Suppe gefundene Grütze entsprach selten mehr als zwei Löffel je Schlag. Ein Fleischstück war die Ausnahme, Fettaugen konnte man zählen, Kartoffeln waren kaum darin. Niemand von uns hatte eine Möglichkeit zur Beschaffung zusätzlichen Essens. Wer aufpaßte, zupfte im Frühjahr eßbares Grün. Jugendliche wurden grundsätzlich nicht den Arbeitskommandos zugeteilt, die innerhalb des Lagers zur Aufrechterhaltung der einfachsten Lebensvoraussetzungen erforderlich waren, wie Küche, Brotfahrer, Holzplatz, Revier, Entlausung, Leichenträger oder andere. Wir hatten noch keine Berufe, waren Schüler oder Lehrlinge, und konnten folglich auch nicht, wie einige wenige Handwerker, den Offizieren irgendwie nützlich sein oder anderswo eine Chance auf zusätzliches Essen nutzen.

Eine Flucht war völlig ausgeschlossen. Uns trennten hoher Stacheldraht und ein mindestens zwei Meter hoher, dicht gefügter Bretterzaun von der Außenwelt. Von letzterem wußten wir, daß er noch mindestens einen halben Meter tief in die Erde eingelassen war. Der Abstand zwischen den Wachtürmen am Zaun entlang war, unserer „Gefährlichkeit“ entsprechend, sehr dicht. Vier Stunden hatten die Posten hinter dem MG jeweils Dienst und richteten ihren grimmigen Blick auf das Lager. In frostigen Nächten hörten wir ihre Stiefel auf dem Holz, wenn sie versuchten, die Füße warmzuhalten.

Durch den anhaltenden Hunger und die einseitige Ernährung hatten wir schon im ersten Winter Erscheinungen von Vitamin- und Eiweißmangel. Wir bekamen Wasser – zuerst in den Beinen – und Skorbut, litten unter vielen Furunkeln, Krätze und maßlos viel Eiter. Meine Haut wurde schuppig, das Zahnfleisch blau, die Zähne wurden locker, die Haare dünn und die Fingernägel weich. Alle diese Hungerfolgen prägten sich insbesondere bei uns Jugendlichen stark aus und zeigten sich in dieser Form weniger auf der Haut der älteren Häftlinge, bei denen Rose, Bartflechte und ähnliches dominierten.

Mit der Märzsonne, mit Hilfe eines öligen Mittels gegen die Krätze und später mit etwas Melde und Brennessel in der Suppe besserte sich die Situation etwas. Die Krätze aber blieb in der Regel und machte den meisten noch im Sommer schwer zu schaffen. In meinen Beinen stieg in diesem Frühjahr das Wasser bis in die Oberschenkel, machte aber zu meinem Glück vor dem Bauch halt. Gegen das Wasser erhielten wir unregelmäßig einen Kiefernnadelaufguß, der unübertreffbar bitter schmeckte.

Unser erstes Lagerweihnachten ging undramatisch vorbei. Es wurde zu einer wirklich stillen Nacht, weil Gesang verboten war und auch niemand Lust zu einem Weihnachtslied verspürte. Wir nahmen unsere Lage hin und hofften auf baldige Entlassung. Schmerzlicher war Weihnachten für die Männer, die Frauen und Kinder zu Hause hatten. Es gab sichtbare Beispiele dafür. Im Januar/Februar wuchs die Anzahl der täglich Sterbenden, die damals noch auf den Schultern ihrer Träger, nackt oder nur spärlich bedeckt, in ihr Massengrab im nahegelegenen Wäldchen geschleppt und hineingeworfen wurden.

Meine Verfassung in der Zeit des Februar 46 prägte sich mir nachhaltig ein. Schon einige Zeit lief ich auffällig durchs Lager, die Arme in der Waagerechten, weil eine dicke Eiterborke in beiden Achselhöhlen und an den Seiten des Brustkorbes jede andere Armhaltung unmöglich machte, sonst wäre die Borke gerissen und hätte mir Schmerzen bereitet. Zu allem Eiter und den vielen Furunkeln am Kopf, am Gesäß und an den Beinen gesellte sich dann noch ein Riesenabszeß in der linken Leistenbeuge, dessen Oberfläche blaugrün, hart und sehr schmerzend war. Dadurch konnte ich schließlich kaum noch laufen. Das entnervte mich zusehends, nahm mir Kraft und Mut. Bevor man mich am 20. Februar ins Lazarett schleppte, verabschiedete ich mich von einem Kölziger Kumpel, als sähen wir uns zum letzten Mal – mit Gruß nach Hause, falls er durchkommen sollte, und der Übergabe meiner Habseligkeiten.

Im Lazarett, Revier nannten wir es auch, kam ich am nächsten Tag in die Hände von Doktor Rosaljewitsch, des pokkennarbigen russischen Arztes, der wegen seiner Dienste für Wlassow selber Häftling und seltsamerweise noch im Lager verblieben war. Nackt lag ich auf einem gewöhnlichen Tisch. Mit einer Schere brachte er mir einen Schnitt bei. Mein Schrei muß tierisch gewesen sein. Was herauskam, war viel, fast schwarz und roch nicht gut. Nach genauem Hinsehen stellte er in den Achselhöhlen noch je einen Schweißdrüsenabszeß fest. Das Verfahren der Behandlung war das gleiche, und die Schere muß auch dieselbe gewesen sein.

In meinem Krankenzimmer sah ich fast nur Eiternde. Im Raum standen aus Holz gezimmerte schmale Pritschen mit je einem apathisch daliegenden Kranken. Die meisten hatten offene, als Folge von Ödemen geplatzte Beine, die mit Hilfe untergelegter Steine so hoch lagen, daß Bratpfannen oder flache Töpfe darunter Platz hatten. Hier hinein tropfte der stinkende Eiter. Einige wimmerten, jeder schien vor sich hin zu faulen. Behandelt wurde nicht, falls nicht gerade eine Standardsalbe oder Jod passend waren. Ein Sanitäter gab mir einen Platz im hinteren Teil des Rau-mes zwischen zwei Pritschen auf dem Fußboden. Ich überlegte trotz meiner geschundenen Psyche. Klar war mir zweierlei: Zuerst mußte ich hier auf dem schnellsten Wege raus, um nicht für mich den Weg in die Massengräber zwischen Lagerzaun und Autobahn ganz kurz zu machen. Zum zweiten brauchte ich einen Platz auf den Pritschen, um nicht getreten zu werden. Es klingt makaber, aber meine Aufmerksamkeit galt dem rechten Nebenmann. Ich hatte bereits genug Erfahrung, um einschätzen zu können, daß sein leises Stöhnen nicht mehr lange dauern würde. Noch war es wahrnehmbar. Ich versuchte deswegen, nach dem Dunkelwerden wach zu bleiben, um den Sanis zuvorzukommen und die Platzfrage selbst zu regeln. Irgendwann war es dann auch soweit, daß der Kamerad neben mir schließlich ausgelitten hatte. Ich tauschte den Platz mit ihm. Der Vorzug der Pritsche konnte ihm ohnehin nichts mehr nützen. Ich hoffte, daß der Tausch nicht auffallen würde, wenn die Sanis früh kamen. Durch den Tod des Nebenmannes kam ich unverhofft zu seinem letzten Brot, das am Kopfende lag, sowie zu seinen Schuhen. Die Schuhe waren von großem Nutzen, weil meine eigenen mir erst bei der letzten Entlausung weggenommen worden waren und ich immer Angst davor hatte, nur meine selbstgebauten Pantinen an den Füßen zu tragen, wenn es einmal auf Transport gehen sollte.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob mein Umgang mit dem toten Kameraden richtig war. Eine Antwort konnte ich mir nicht geben. Genau ein Jahr danach, im strengen Frost des Februar 1947, war es in Jamlitz normal, daß die nachts Verstorbenen morgens unbekleidet auf ihrer Pritsche lagen. So verbesserte der Tod des einen die Chancen der anderen. In Ketschendorf wußten wir, daß die Sanis Goldzähne an die Russen weitergaben und Speck dafür bekamen.

Meine nächtliche Tat blieb unbemerkt. Der Kumpel wurde hinausgetragen, und ich behielt meinen Platz, ohne daß die Sanis mitbekamen, wer nun wer war. Es ging sowieso alles namenlos zu, wenn man von der Vernehmungsakte jedes einzelnen in der Kommandantur absieht, die mit Sicherheit keinen Vermerk erhielt nach dem Abgang in das Massengrab. Für die meisten der mehr als 4000 in Ketschendorf bis Februar 1947 Umgekommenen begann der Weg dorthin im Lazarett. Von hier kamen die Toten in den hinter dem Gebäude liegenden Erdbunker, zu dem die Ratten ungehindert Zutritt hatten. Ich sah Löcher in den Gliedmaßen der Toten, wenn das Leichenkommando auf dem Weg zum Tor meistens früh am Jugendhaus vorbeikam und Arme oder Beine von den Tragen hingen. Es war täglich die gleiche Zeremonie. Wir entblößten zu Ehren der toten Leidensgenossen unsere Häupter und verharrten still. Auch das wurde Alltag. Ein oben abgeschnittener Zirkuswagen war später dann das Transportmittel für die tägliche tote Fracht nach draußen.

Der Winter ging vorbei, und wir hatten noch lange mit seinen Auswirkungen auf unseren körperlichen Zustand zu tun. Unsere Verfassung war schlecht. Ein Kamerad aus Klein-Köl-zig, sechzehn Jahre alt, litt zunehmend unter Wasser und deswegen unter Durst. Er kannte die damit verbundene Gefahr, widerstand ihr aber nicht. Wir versuchten, ihn zu kontrollieren und vom Trinken abzuhalten. Das Wasser erreichte seinen Bauch, machte den Hoden groß. Nur wenige Tage lebte er noch. Anfang April starb er. Viele aus unserer Gruppe folgten ihm und wurden im Wäldchen an der Autobahn verscharrt.

Ich zählte inzwischen zu den Dystrophikern der Gruppe vier [das war der stärkste Abmagerungsgrad – d. Verf.]. Diese Einstufung nutzte mir allerdings nichts. Ich blieb es für lange Zeit. So abgezehrt war ich, daß meine Mütze beim Herabrutschen an den Backenknochen hängenblieb oder das Wasser aus den Vertiefungen am Schlüsselbein nach dem gelegentlichen Duschen nicht ablief. Die Beine waren spindeldürr, mein Blut war wäßrig und dünn. Die Fingernägel wurden weich, die Haut schuppig. Ich hatte Anzeichen von Skorbut. Mein Kopf schien hundert Ecken zu haben. Die Krätze war noch lange nicht abgeheilt.

Die stärker werdende Sonne half uns. An warmen Tagen saßen wir auf den Fensterbrettern und hielten unseren Allerwertesten in der Hoffnung auf Heilung in die Sonne. Die Furunkulose am Hintern nannten wir Streuselkuchen, weil die Eiterborke so dicht wie Streusel auf einem Kuchen war. Dieses tolle Bild fiel schließlich einem dicken Major unangenehm auf, und er verbot uns diese Art der Therapie. Wir zögerten auch nicht, ohne Hose im Lager herumzulaufen, und hielten uns dabei das Hemd weit vom Leibe, auch unter den Augen der, Frauen aus dem benachbarten Zwinger. Jedes Mittel war uns recht. Dazu zählte selbst der eigene Urin, mit dem wir die kranke Haut behandelten. Das war eine schmerzhafte Prozedur, es brannte und tat gräßlich weh. Urin benutzten manche auch gegen Halsentzündungen, sie gurgelten damit und schworen darauf. Allerdmgs – und dabei hoben sie den Finger – ginge das nur mit gesundem Urin. Wer aber wußte schon, was an uns noch gesund war und was nicht? Den vielen Wucherungen von wildem Fleisch an den überall vorhandenen Furunkeln begegneten wir mit dem Aufstreuen von Zucker. Manche glaubten, Erfolge beobachten zu können. Gegen Wasser schützten wir uns, indem wir eine Kiste an den Ofen stellten, uns auf den Fußboden legten und die Beine auf der Kiste in die Wärme des Ofens hielten. Es gab kaum Medikamente. Den Ärzten stand nicht einmal das Allernotwendigste zur Verfügung. Ihnen begegneten Krankheiten, die es im normalen Leben vielleicht gar nicht gab. Ich sah einmal Fiebertabletten, auch von Wassertabletten war die Rede. Sonst gab es nichts, keine Mittel gegen Durchfall und Ruhr, nichts gegen Erkältungen und Lungenentzündung, kein Verbandsmaterial, nur Jod in verschiedenen Farben. Wir bekamen Fichtennadeltee gegen Wasser, Medigal gegen Krätze sowie die von Doktor Rosaljewitsch erfundene Salbe gegen Furunkel und offene Beine. Zahnbehandlung war unbekannt. Vielen wäre das Leben erhalten geblieben, hätten die Arzte die Möglichkeit gehabt, wäßrige Erscheinungen an Lunge und Rippenfell durch Punktieren zu behandeln. Wir waren der völlig unzulänglichen Lagerhygiene hilflos ausgesetzt. Es gab kein Papier für den bekannten hinterlistigen Zweck. Niemand besaß eine Zahnbürste, jeder hatte Ungeziefer, war schmutzig und mühte sich, den Eiter aus seiner Wäsche hin und wieder mit Wasser zu entfernen. Gelegentlich bekamen wir Waschpulver, wuschen damit unsere Kleidung und säuberten damit auch den Fußboden, worauf von den beiden russischen Lagerärztinnen und vom deutschen Häftlingskommandanten Knoke großer Wert gelegt wurde. Knoke verordnete zusätzlich Backsteine, mit denen wir die Dielen unter Zuhilfenahme von Wasser in einen Zustand zu versetzen hatten, der gehobeltem Holz gleichkam.

Geachtet wurde auch darauf, daß wir regelmäßig kahlgeschoren wurden und auch sonst alle Körperhaare verloren. Die Sanis machten sich mit viel Geschick selbst zwischen den Beinen zu schaffen. Trotzdem verloren sich die Kopf- und Filzläuse nie. Als einzige Wasserquelle stand uns eine Handpumpe zur Verfügung, dazu – außer dem Duschkeller in der Entlausung -während der frostfreien Zeit zwei offene Waschanlagen, wo das Wasser aus durchlöcherten Rohren in eine Krippe lief. Das waren auch die Stellen, wo die Eßgefäße gesäubert wurden, sofern man sie nicht mit den Fingern von den Resten der Suppe befreien mußte.

Ende Mai zeigten sich bei mir Ruhrsymptome, deren deutlichste Form wir im blutigen Stuhl erkannten. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht bei mir nicht. Der Essensentzug bei Ruhr war die Ursache dafür, daß manche die beginnende Krankheit verheimlichten. Deswegen waren Klosettwachen eingesetzt, die jeden Stuhl zu überprüfen hatten.

.In dieser Zeit lernte ich Marianne Simson kennen, die im Frauenzwinger saß und dem Arbeitskommando angehörte, das im Lazarett Dienst tat. Ich kannte sie als Schauspielerin aus mehreren Filmen. Marianne Simson war eine von etwa 500 Frauen, von der Schülerin bis zur Greisin, die in einem Stacheldrahtzwinger gegenüber unseren Häusern untergebracht waren. Es genügte für die Jüngste die Mitgliedschaft beim BDM, um verhaftet und nach Ketschendorf gebracht zu werden. Es sollen in Ketschendorf drei Kinder geboren worden sein, deren Mütter schon bei der Verhaftung schwanger waren. Die Unterkünfte im Frauenlager waren genauso überbelegt wie bei uns, bis zu vierzig Personen in einem Raum. Einigen Frauen waren die Kopfhaare geschoren worden, vielleicht der Läuse wegen. Allein aus Forst waren zwei Mädchen im Lager, deren Väter unter uns weilten. Max Klein, der im Februar ’47 in Jamlitz umkam, mußte in den Bunker, weil seine sechzehnjährige Tochter ihm ein Stück von ihrem Brot zuwarf, was genauso verboten war wie das Gespräch durch den Stacheldrahtzaun. Ein anderes Mädchen bekam ebenfalls drei Tage wegen eines Stückes Brot für ihren Vater. Die Kom-mandantin des Frauenlagers hieß Hertel.

Im Männerlager befanden sich außer einem Amerikaner zwei Inder, die durch ihre Kopfbedeckung und die braune Hautfarbe auffielen. Diese Tatsache war für uns kaum erstaunlich, denn wir wußten, daß damals schon der Schein genügte, um der Spionage verdächtigt zu werden. In solchem Falle war es dem NKWD völlig egal, ob der Verdacht Inder, Amerikaner oder Deutsche, Kinder oder Greise traf.

In einem der Züge des Hauses 4 lebte noch im Sommer ein Häftliffg – Tee-Großkaufmann in Danzig soll er gewesen sein -, der bei den Verhören nach seiner Verhaftung eine so üble Behandlung erfahren hatte, daß er den Verstand verlor. Ich erlebte ihn seit 1945 nie anders als so: Kopfschüttelnd oder -nickend mit nach vorn gerichtetem Blick, mit immer unruhigen Händen, ständig laufend, gab er fortwährend und monoton von sich: „Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße, nicht stehenbleiben, so schön weitergehen! Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße. . .“ Und das den ganzen Tag, über Monate hinweg. Jeder von uns bedauerte ihn. Ein tragischer Fall, der irgendwann ein Ende durch den Tod fand. Der Mann muß in Ketschendorf geblieben sein, denn er tauchte weder in Jamlitz noch in Neubrandenburg je wieder auf.

Ich holte manchmal Leute in unsere Unterkunft, die uns von ihren Erinnerungen an ihre Berufe erzählten. In der Regel war das mit einer kleinen Brotzuwendung verbunden. So brachten wir Abwechslung in unseren Alltag, der eigentlich aus nichts anderem bestand, als auf die Brot- und Essenholer zu warten, aus Läuseknacken, dem Rundgang auf dem Platz hinter den Häusern 2 und 3 und aus Gesprächen über Themen, die Hungernde bewegen. Ich beschäftigte mich viel mit meiner Nähnadel, konnte auf einfache Weise schließlich stricken, beschäftigte mich mit dem selbstgebauten Schachspiel. Schachspielen war das einzige, was die Sowjets gestatteten. Außerdem lösten wir Kreuzworträtsel, die wir uns untereinander aufgaben. Dazu benutzten wir glatte Brettchen und Stifte aus Aluminiumdraht als Schreibutensilien. Seitdem wir Waschpulver bekamen, hatten wir auch Skatkarten von kleinem Format, die wir aus den Verpackungen anfertigten. Skatspiel und Rätselraten mußten wir allerdings vor den Augen von Knoke, der Sergeanten und der Ärztinnen verborgen halten.

Am 10. Juli 1946 überraschte uns eine große Krätzeuntersuchung. Wir suchten nach Erklärungen für das plötzliche Interesse der Russen an unserer Hautsituation. Natürlich kamen sofort die alten Gerüchte auf. Die einen wollten von einer Entlassung gehört haben, wir müßten nur erst einmal alle gesund sein. Die Pessimisten glaubten wieder an einen Transport nach Rußland. Dieser Tag der Krätzeuntersuchung könnte Pfingsten gewesen sein, genau der Tag, an dem die Freie Deutsche Jugend [FDJ – d. Verf.] in Brandenburg an der Ha-vel ihr Gründungsparlament durchführte und eine neue Politikergeneration gebar. Davon wußten wir nichts, aber es verhielt sich doch so: Nicht alle durften am neuen Leben teilnehmen. Wir waren bei ständiger Lebensgefahr dazu verdammt, für die politischen Fehler unserer Elterngeneration zu büßen, unabhängig davon, ob die Väter Nationalsozialisten oder Kommunisten waren, und wir hatten schließlich auch zu büßen für die im deutschen Namen während des Krieges begangenen Verbrechen an Leben und Freiheit ebenso unschuldiger Menschen, wie wir es waren.

Wir wußten überhaupt nicht mehr, was draußen geschah, seitdem die Zugänge aus den Gefängnissen und GPU-Kellern ausblieben. Aus Losungen, die auf Waggons der am Lager vorbeiführenden Eisenbahn gemalt waren, erfuhren wir, daß es draußen eine neue Partei gab, daß eine Wahl stattfand und Listen dabei eine Rolle spielten. Mehr aber blieb uns durch unsere hermetische Abschottung von der Außenwelt verborgen. Wir wußten nichts von unseren Familien, sie wußten nichts von uns. Für alle war das hart.

Wir gingen dem zweiten Ketschendorfer Winter entgegen. Er sollte nicht nur von den Temperaturen her schlimm werden. Die Rationen waren seit dem 4. November 1946 stark herabgesetzt worden. Dafür sollte es einen Befehl der obersten russischen Verwaltung gegeben haben. Später erfuhren wir, daß auch die Häftlinge in Jamlitz von dieser Essenskürzung überrascht worden waren. Die Brotportion betrug fortan nur noch um die 300 Gramm, die Suppe verlor schlagartig ihre festen Bestandteile. Diese Verschlechterung des Essens traf uns böse. Wir versuchten auszurechnen, für wie viele Wochen die Kraft noch reichen würde.

Illusionen hatte niemand. Die Hoffnung, zu überleben, verringerte sich ständig. An eine Entlassung glaubte zu dieser Zeit kaum noch jemand. Das Stimmungstief war deutlich. Daran konnten auch die bei Häftlingen älterer Jahrgänge mit den Namen von Frau und Kindern oder dem Ruf „Heim zu Mutti!“ bestickten Jacken und Mäntel nichts ändern. In diesem Winter lag für die meisten der Gedanke näher, daß niemand mehr aus dem Lager herauskommen würde. Zu viele waren schon ihren letzten Weg in die Massengräber im Wald gegangen. Ende 1946 entstand als Folge von Hunger und Kälte eine allgemeine Resignation.

Unsere Kleidung war zu dieser Zeit naturgemäß schon mehr als dürftig, denn wir trugen ja Tag und Nacht dieselben Sachen auf dem Körper, weil wir auf bloßen Brettern oder anfangs lange Zeit auf dem Betonfußboden der Keller lagen. Neue Sachen wurden nur in dem Maße verteilt, wie Verstorbene noch Brauchbares hinterließen. Viele von uns steckten auch in abgetragenen Sommeruniformen der Russen. Alle Gewebe waren durch die zahlreichen Entlausungen dünn geworden. Die Unterwäsche war steif vor Dreck. Ich erinnere mich, daß mein Hemd durch den Eiter stand. Auch Hosen habe ich stehen sehen. Waschen im Winter war unmöglich.
(…)
Der Häftlingskommandant in Ketschendorf hieß Kasimir. Er war selber Häftling, stammte aus einem der baltischen Länder, war Deutscher, sehr ernst, schon etwas älter und trug einen halbsteifen Hut, einen sauberen Anzug und einen Mantel mit Pelzkragen. So kannten wir ihn aus ungezählten Gängen durch das Lager. Er genoß Autorität bei uns, anders als beispielsweise „Bello“ Schröder, Polizeioffizier und einer dieser privilegierten Halunken der alten Güte, der Kasimirs Vertreter war und dem auch der Lagerschutz unterstand; Offizierstypen, die, wie Henry Knoke, Polizeichef aus Hannover und unser Hauskommandant, ausgesucht waren, um übereifrig eine Ordnung zu sichern, die uns das Leben noch schwerer machte. Zu diesen uniformierten Postenträgern zählten auch Bruchmann, Sprecher des `Großdeutschen Rundfunks´, oder Siebert, Kriegsgerichtsrat der Nazis, der, wie andere auch, noch in seiner alten Uniform steckte und Langschäfter trug. Sie alle hatten sich gefunden, weil sie sich kannten. Sie lebten von Essennachschlägen, froren nicht, waren sauber und ließen sich nicht nehmen, was ihr Privileg war.
(…)
Anfang 1947 war wieder die Rede von Transporten. Am 16. Januar war ich an der Reihe. Neben einer Anzahl „Alter“ wurden mit wenigen Ausnahmen alle A-Züge aufgerufen und nochmals entlaust. Zu diesen Zügen gehörten alle Jugendlichen, die am Tage ihrer Einlieferung in Ketschendorf noch nicht sechzehn Jahre alt waren. Die beiden jüngsten von uns waren zwölf und dreizehn Jahre bei ihrer Verhaftung. Sie wurden gleich nach dem Einmarsch der Russen aufgegriffen und gingen in ihrer Sommerkleidung den Weg nach Ketschendorf. Ich sah sie noch im November fünfundvierzig mit kurzen Hosen. Wenige Wochen später waren beide tot.

Die B-Züge, dazu gehörten die Jugendlichen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren, waren für diesen Transport nicht vorgesehen. Wie ich später erfuhr, brachte man sie nach unserem Abtransport in das Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg. Uns aber schaffte man nach Jamlitz…“

Anfang 1947 begann die Auflösung des Lagers. Die Häftlinge wurden nach Frankfurt/Oder, Jamlitz, Mühlberg und Fünfeichen transportiert. 2000 kamen in sowjetische Zwangsarbeitslager. Am 17. Februar 1947 wurde das Lager endgültig aufgelöst. Ein Restkommando von 50 Internierten mußte im April 1947 ins KZ Buchenwald. Mindestens 6000 Häftlinge sind infolge der Haftbedingungen in Ketschendorf gestorben.

Im Frühjahr 1952 sollten im Fürstenwalder Ortsteil Ketschendorf Wohnhäuser gebaut werden. Als Arbeiter die Fundamente ausschachteten, stießen sie auf die Überreste Hunderter von Leichen. Um Aufsehen zu vermeiden, wurde das Gelände) abgeriegelt; ein großer Teil der Toten sollte möglichst unauffällig abtransportiert und umgebettet werden. Viele Fürstenwalder wußten aber, wer da unter der Erde lag: Häftlinge des sowjetischen Internierungslagers Ketschendorf.

Vom März bis zum Mai kamen mehr als dreißigmal Lastwagen mit Holzkisten zum Waldfriedhof Halbe. ln diesen Kisten befanden sich Überreste von Menschen in stark verwestem Zustand. Die Leichen wurden, ohne daß man sie sorgfältig zählte oder gar identifizierte, in Massengräbern verscharrt. Beamte des Staatssicherheitsdienstes überwachten das Ganze. Mehr als 3000 Leichen wurden in Massengräber auf dem Friedhof Halbe verscharrt und mit falschen Inschriften versehen. „Unbekannt April 1945“ ist auf den Steinen im Gräberfeld 9 zu lesen. Später wurde bekannt, woher die Toten stammten: aus Ketschendorf.

Auf dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers befindet sich heute ein „Platz der Freiheit“. Doch nicht alle Ketschendorf-Opfer wurden damals umgebettet. Ein Teil der dort errichteten Neubauten an diesem Platz stehen auf einem Fundament aus Hunderten von Leichen.

Vom Faschist zum Antifaschist

BEISPIELE FÜR FASCHISTISCHE FUNKTTIONSTRÄGER, DIE IN DER DDR ZU NEUEN EHREN KAMEN.

Im Jahre 1948 verkündete die SMAD mit dem Befehl Nr. 64 das Ende der Enteignung und mit dem Befehl Nr. 35 das Ende der Entnazifizierung. Nach Einschätzung der Verantwortlichen war der „volkseigene Sektor“ vorerst groß genug, und andauernde Auseinandersetzungen in dieser Frage würden nur Unruhe ins Bürgertum tragen. Im Zeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges war das bündnispolitisch unerwünscht.

Von 1945 bis 1948 waren 520.000 Mitglieder der NSDAP aus allen Bereichen der Verwaltung und der Industrie der Sowjetischen Besatzungszone entfernt worden.

Einfache NSDAP-Mitglieder und Mitläufer erhielten bereits im August 1947 ihr aktives und passives Wahlrecht wieder, nachdem im September 1946 die ersten Gemeindewahlen, im Oktober 1946 die ersten Wahlen zu den Land- und Kreistagen in der Sowjetischen Besatzungszone stattgefunden hatten. 1953 zählte die SED etwa 150.000 Mitglieder, die ehemalige Wehrmachtsangehörige im Offiziers- bzw. Unteroffiziersrang waren oder der NSDAP bzw. einer ihrer Gliederungen angehört hatten. Im Mai 1948 wurde für einen Teil ehemaliger Nazis die NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) als weitere Blockpartei gegründet, die bis zum Ende der DDR in der Volkskammer mitregierte.

Im Jahre 1965 waren so noch 53 Alt-Nazis Abgeordnete der Volkskammer, 12 Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, 2 Mitglieder des Staatsrates der DDR und 5 besaßen Landesministerposten. Etliche Alt-Nazis halfen beim Aufbau der „Volkspolizei“ und der NVA. In den Medien besaßen sie großen Einfluß. Sie bekleideten die Stellungen von Chefredakteuren und bildeten z.B. in den Redaktionen des „Neuen Deutschland“ und der „Deutschen Außenpolitik“ eigene Arbeitsgruppen. In all diesen „roten“ Institutionen ließen sich Nazis finden, dort gab es ehemalige SS-Mitglieder, SA-Führer, Vertrauensleute der Gestapo, Angehörige von Propagandakompanien, Mitarbeiter des NS-Rundfunks, des „Völkischen Beobachters“, des „Schwarzen Korps“, Beamte des Propagandaministeriums, Mitglieder des „SS-Rasse und Siedlungs-Hauptamtes“, Angehörige der „Legion Condor“.

5 Beispiele:

E. GroBmann (SED): bis 1959 Mitglied des ZK der S8D, bis
1963 Abgeordneter des Bezirkstages
Erfurt, Vorsitzender der LPG
‚Walter Ulbricht‘ in Merxieben, Held
der Arbeit
vor 1945: 1938 Mitglied der NSDAP, Mitglied des
Sudetendeutschen Freikorps, 1940 SS
Totenkopfwerband in Sachsenhausen,
Wachmannschaft des KZ Sachsenhausen,
SS?Unterscharführer

A. von Lenski (NDPD): 1952?1958 Generalmajor der VP bzw. NVA
Abgeordneter der Volkskammer,
Hauptausschuß der NDPD, Vaterländischer
Verdienstorden, Verdienstmedallle der
NVA, Medeille für Kämpfer gegen den
Faschismus,
vor 1945: Berufsoffizier der Wehrmacht, zuletzt
Generalmajor und Kommandeur der 24.
Panzerdvision, 1939?1942 mitglied des
Volksgerichtshofes‘ in Berlin ? Nachweislich an 20 Terrorurteilen beteiligt

H. Neukirchen (SED): 1962/1963 Chef der Volksmarine der DDR,
Vizeadmiral der NVA, Verdienstmedeille
vor 1945: 1944/1945 Führungsoffizier der
Wehrmacht, 1936 Teilnehmer am
spanischen Bürgerkrieg auf
faschistischer Seite (Kreuzer Köln)

K. Säuberlich (SED): 1954?1958 Abgeordneter der Volkskammer,
Leiter einer Forschungsstelle in der
“Maxhütte“, Zehnfacher Aktivist,
Nationalpreisträger
vor 1945: 1930 Mitglied der NSDAP, 1937 Eintritt
in die SS, SD Leitabschnitt Dresden,
SS Obersturmführer

R.Tappert (SED): Oberst der Nationalen Volksarmee,
Verdienstmedeille der DDR
vor 1945: 1933 Mitglied der NSDAP und Eintritt in
die SS, SS?Scharfführer im
Sicherheitshauptamt des Reichsfahrers
SS-Leibstandarde Adolf Hitler, SS-Infanterie Regiment 6

Quelle: „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“

Die DDR und die Juden – Neue Literatur und Perspektiven

VON CONSTANTIN GOSCHLER, ERSCHIENEN AUF TREND – ONLINEZEITUNG FÜR DIE ALLTÄGLICHE WUT

Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft begann sich auch auf dem Boden der SBZ bzw. DDR allmählich wieder ein jüdisches Leben zu rekonstruieren. Auch gegenüber dem 1948 gegründeten Staat Israel herrschte in Moskau wie in Ostberlin anfänglich durchaus Wohlwollen, wurde doch der neue Staat zuerst als antiimperialistischer Pflock im Fleisch des britischen Empires betrachtet. Die sich seit Ende der vierziger Jahre von der Sowjetunion wellenförmig an die Peripherie des Ostblock ausbreitenden antisemitischen Ausschreitungen zerstörten jedoch schon bald diesen Honey-moon mit Israel, und ebenso die sich gerade erst entwickelnden Grundlagen jüdischen Gemeindelebens in der DDR. Dort gipfelten diese Vorgänge unter anderem Ende 1952 in der Verhaftung Paul Merkers und der Veröffentlichung der „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ durch das ZK der SED. Die Folge war 1953 ein massenhafter jüdischer Exodus aus der DDR, an dessen Ende von den etwa 5000 Juden, die sich mittlerweile wieder dort angesiedelt hatten, gerade noch etwa 1500 übriggeblieben waren.[1] 1989 sollte diese überalterte und kontinuierlich schrumpfende jüdische Restgemeinde nur noch 380 Mitglieder zählen. Woraus speist sich angesichts dieser scheinbar marginalen Bedeutung des Gegenstandes das Interesse am Verhältnis der DDR zu den Juden?

Die internationale Öffentlichkeit betrachtete die Beziehungen zwischen der DDR und den Juden vielfach als einen Prüfstein der Glaubwürdigkeit des ostdeutschen Staates – beanspruchte dieser doch, weitaus radikaler als sein verfeindeter Zwillingsbruder mit den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus aufgeräumt zu haben. Mißtrauen herrschte jedoch vor allem darüber, inwieweit ein antisemitisches Dispositiv in der DDR weiterhin fortwirkte. Zu solchen Fragen gab vor allem die antizionistische Propaganda gegenüber Israel Anlaß, die im Gefolge der Anfang der fünfziger Jahre betriebenen antisemitisch gefärbten Kampagne in der DDR einsetzte. In der Wahrnehmung der politischen Führung der DDR konzentrierte sich das Problem im Umgang mit den Juden vor allem auf drei Gruppen: die wenigen Juden im eigenen Lande, den Staat Israel und die amerikanischen jüdischen Organisationen. Einen Brennpunkt bildete die Frage der „Wiedergutmachung“ der den Juden durch den Nationalsozialismus zugefügten Verbrechen. Dabei enthielt vor allem die Frage der nunmehr zum sozialistischen „Volkseigentum“ gewordenen ehemaligen jüdischen Vermögenswerte auf dem Gebiet der DDR viel Sprengstoff. Die DDR lehnte jedoch vor allem unter Verweis auf die angeblich großzügige Unterstützung der auf ihrem Staatsgebiet lebenden Juden, aber auch auf die von ihr sorgfältig erfüllten Reparationspflichten sowie die Überwindung aller Hinterlassenschaften des Faschismus fast bis zu ihrem Ende jegliche Verantwortung für diese Fragen ab.

Bereits vor 1990 entstanden einige wichtige Arbeiten zum Verhältnis der DDR zu den Juden. Hervorgehoben seien nur einige wenige wichtige Beispiele: Die Dissertation Gerald E. Thompsons bot eine erste Gesamtdarstellung jüdischen Lebens in der DDR.[2] Hingegen standen in den Arbeiten Peter Dittmars[3] sowie Inge Deutschkrons[4] die außenpolitischen Aspekte im Mittelpunkt. Während diese Arbeiten ganz auf öffentlich zugängliche Quellen sowie Interviews angewiesen waren, boten sich im Gefolge der nach der Wende erfolgten Öffnung der Archive der ehemaligen DDR ganz neue Möglichkeiten. In den letzten Jahren entstand so eine Anzahl neuer Studien und Quelleneditionen, von denen im folgenden einige vorgestellt werden sollen. Dabei hatte es offensichtlich mit den politischen Orientierungsbedürfnissen der ersten Jahre nach dem Ende der DDR zu tun, daß zumindest in den ersten Arbeiten zu diesem Thema der Versuch eine zentrale Rolle spielte, anhand des Umgangs mit den Juden eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des „Antifaschismus“ für die Politik, aber auch das Bewußtsein der politischen Eliten wie der Bevölkerung der DDR zu führen. Dies geschah einerseits in der Absicht, den Antifaschismus als Mythos zu entlarven, mitunter aber auch mit dem Ziel, verteidigungswürdige Bruchstücke aus dieser Hinterlassenschaft zu orten. Diese Phase, in der es um aktuelle Legitimierungsbedürfnisse im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ging, scheint aber allmählich zu Ende zu sein, und dies dürfte sich langfristig auch positiv auf das Niveau der Fragestellungen auswirken.

Soweit es die Untersuchung der Juden in der DDR betrifft, konzentrieren sich diese Untersuchungen in der Regel auf die jüdischen Gemeindemitglieder, da dies das einzige sozusagen unverdächtige Definitionskriterium darstellt. Zumindest für die Erforschung des jüdischen Lebens in der DDR, soviel muß vorab gesagt werden, bergen die neuen archivalischen Zugangsmöglichkeiten neben vielen Chancen allerdings auch eine methodische Herausforderung in sich: Da die jüdischen Gemeinden der ehemaligen DDR (in Anlehnung an die traditionelle Praxis des Vatikans) den Zugang zu ihren Archiven nicht in gleicher Weise ermöglichen, wird die Perspektive auf dieses Verhältnis nun ganz wesentlich durch den in ihren hinterlassenen Aktenbergen verewigten Blick der Partei-, Staats- und Sicherheitsorgane der DDR geprägt. Gefahrenquellen liegen insbesondere dort, wo es um die Einschätzung der Qualität der Beziehungen mit den Juden geht, da hier der Maßstab möglichst vollständiger Kontrolle zugrundeliegt. Die in den amtlichen Quellen dokumentierte notorische Neigung, eigene Erfolge ins beste Licht zu setzen bzw. solche zu feiern, auch wenn es sie vielleicht gar nicht gab, läßt sich im Grunde nur durch die konsequente Benutzung von Gegenüberlieferungen kontrollieren. Solche sind aber, wie gesagt, oft entweder nicht zugänglich oder haben nie existiert. Es wird im einzelnen zu überprüfen sein, wie die einzelnen Arbeiten mit diesem Problem umgehen.

Ein weiteres prinzipielles Problem besteht darin, daß Untersuchungen zum Verhältnis zwischen der DDR und den Juden oft dazu neigen, implizit ein bestimmtes Modell vorauszusetzen, wie dieses Verhältnis eigentlich beschaffen sein sollte. Idealtypisch lassen sich vor allem zwei Positionen unterscheiden: Die eine benennt die Akkulturation und Integration der Juden als hauptsächlich erstrebenswertes Ziel, die andere dagegen die Erhaltung der religiösen und kulturellen Identität des Judentums. Diese Fragen durchziehen die Geschichte des deutschen Judentums seit dem 19. Jahrhundert. Seit 1945, spätestens aber seit der Gründung Israels 1948 kommt hinzu aber auch noch die auch innerjüdisch äußerst kontrovers diskutierte Frage, in welchem Verhältnis jüdisches Leben in Deutschland zur jüdischen Diaspora steht.

Ein gutes Beispiel für diese Problematik bildet die Studie Mario Keßlers, die am Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam entstand und die vor allem auf der Auswertung der einschlägigen SED-Akten basiert. Er konzentriert seine mit einem Dokumentenanhang angereicherte Darstellung auf die politischen Entwicklungen bis 1967. Mario Keßler kommt dabei zu dem Ergebnis, daß dem Verhältnis der SED zu den Juden letztlich das auf Assimilation zielende Konzept der Kommunistischen Internationale zugrunde gelegen sei. Seine Untersuchung folgt dabei dem Schema, wonach dem „guten Anfang“ im Osten Deutschlands, in dem sich „vor allem für bewährte Antifaschisten, darunter für nicht wenige Kommunisten jüdischer Herkunft“ Aufstiegschancen eröffnet hätten, in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren eine zeitweise Unterbrechung gefolgt sei.[5] Doch sei die SED nach dieser Phase der Repression wieder auf den Pfad der Toleranz zurückgekehrt. Seit dem Frühjahr 1953 hätte „die SED-Führung einen deutlichen Trennungsstrich zwischen Antizionismus und Antisemitismus“ gezogen. Die in der DDR lebenden Juden, die sich nach 1953 in ihrer Existenz nicht mehr hätten bedroht fühlen müssen, hätten ein Maß an Toleranz genossen, das ihnen erlaubt hätte, „sich in die Gesellschaft zu integrieren.“[6]

Damit wird deutlich, daß Keßler das kommunistische Assimilationskonzept als Bewertungsmaßstab für seine Analyse übernommen hat. Dies wird auch dadurch unterstrichen, daß er – im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren – nicht zwischen in jüdischen Gemeinden organisierten und außerhalb der Gemeinden in der DDR lebenden Juden unterscheidet. So vermißt Keßler am Ende zwar, daß die SED-Führung nicht in der Lage gewesen sei, „die vielschichtige Problematik jüdischer Existenz in Deutschland wie in Israel genügend wahrzunehmen.“ Doch gelangt er zu dem alles in allem positiven Ergebnis, daß sich diese Politik nach einem Ausrutscher in die Repression bis 1967 hin zur Toleranz entwickelt habe. Im Zusammenhang der auch von ihm deutlich gesehenen Funktionalisierung der Juden in der DDR für die Zwecke der SED erscheint die Verwendung des Begriffes „Toleranz“ in diesem Zusammenhang aber unbedacht und unangemessen.[7]

Wesentlich kritischer fällt dagegen der Blick Michael Wolffsohns auf das Verhältnis der DDR zu den Juden aus. Ihm geht es vor allem darum, die „antifaschistische Legende“ als solche bloszustellen. Zu diesem Zweck konzentriert er sich vorrangig auf die außenpolitischen Aspekte des Themas. Erklärtermaßen verfolgen Michael Wolffsohn und seine Mitarbeiter dabei zugleich das ehrgeizige Ziel, einen wissenschaftlichen Schelmenroman zu schreiben, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleiben soll.(14f.) Die zentrale These des Bandes wird auf der letzten Seite des Werkes bündig zusammengefaßt: „Vom Antifaschismus und der vermeintlichen Judenfreundlichkeit der DDR bleibt nichts. Nichts bleibt.“(388) Die Aufforderung an den eiligen Leser, sich die Belege für diese These durch Lesestreifzüge durch die einzelnen Kapitel zu holen, bereitet allerdings nicht immer Vergnügen: Die vorgeblichen Konzessionen an einen leserfreundlichen Stil bewirken m. E. mitunter das Gegenteil. Die als hauptsächliches Stilmittel eingesetzten parataktischen Satzkonstruktionen haben bei der Lektüre eines fast 400-Seiten langen Buches den ermüdenden Effekt einer Fahrradtour auf Kopfsteinpflaster.

Das Buch basiert auf intensiven Archivrecherchen in Deutschland, Israel, USA und Großbritannien. Wolffsohn konnte dabei noch die Akten des Außenministeriums der DDR einsehen, die bald darauf auf Veranlassung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik wieder gesperrt wurden. Die Struktur des Werkes zerfasert gelegentlich in anekdotische Einzelschilderungen, die letztlich vor allem die zentrale These immer wieder umschreiben, wonach das „antifaschistische Vermächtnis“ der DDR nur eine nicht zuletzt auf gutgläubige Idealisten im Westen berechnete Attrappe gewesen sei. Diesen Gedanken verfolgt er im einzelnen anhand von Versuchen seitens der DDR, die Bundesrepublik – etwa durch inszenierte Hakenkreuzschmierereien – außenpolitisch zu diskreditieren, das Problem des Antisemitismus in der DDR, das Verhältnis der DDR zu Israel und den arabischen Staaten sowie die Versuche der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, ihre Beziehungen zu amerikanischen jüdischen Organisationen zu verbessern. Bemerkenswert ist dabei seine These, daß zwar die politische Führung der DDR „alles andere als immun“ gegen den Antisemitismus gewesen sei, die Bürgermehrheit jedoch demoskopischen Untersuchungen am Ende der DDR zufolge zum Teil eine größere Distanz zu braunen und antisemitischen Positionen besessen habe, als die Bevölkerung der Bundesrepublik.(111) Er unterläßt es jedoch zu interpretieren, ob dies trotz des staatsoffiziellen Antifaschismus oder wegen diesem so der Fall gewesen sei.

Das Gegenstück zu dieser Arbeit bildet in gewisser Weise die Studie Angelika Timms, die sich auf die Beziehungen der DDR zu Israel konzentriert und dabei den Zeitraum bis 1990 untersucht.[8] Im Zusammenhang der gegenwärtigen Debatte um Historiker im Nationalsozialismus, in der auch die Frage der „Lernfähigkeit“ nach 1945 eine wichtige Rolle spielt, ergeben sich hier interessante Parallelen. Angelika Timm war bis zum Ende der DDR eine radikale Vertreterin antizionistischer, antiisraelischer Positionen. [9] Seither hat sie sich auch international einen Ruf als Expertin für das Verhältnis zwischen der DDR und Israel erarbeitet, wobei sie ihre Kenntnisse aus früheren amtlichen Funktionen sozusagen produktiv verwerten konnte. Jenseits der auch von ihr selbst reflektierten Problematik der intellektuellen Aufrichtigkeit einer solchen Wissenschaftlerinnenbiographie ist jedenfalls festzustellen, daß sie eine solide Studie vorgelegt hat, in der die politischen Beziehungen zwischen der DDR und Israel im Mittelpunkt stehen. Bemerkenswert ist auch hier der breite Archivzugang, hat sie doch gleichfalls alle für ihr Thema einschlägigen Archive in Deutschland, Israel und den USA ausgewertet. Auch sie war noch in der glücklichen Lage, den mittlerweile versperrten Zugang in das Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten in der DDR nutzen zu können. Ihr Band enthält einen edierten Quellenanhang, wobei für viele Leser insbesondere die Übersetzung hebräisch verfaßter Quellen nützlich sein dürfte.

Auch für Angelika Timm stellt die Frage des Umgangs mit den Juden den „Lackmustest“ des antifaschistischen Credos der DDR dar, den diese letztlich nicht bestanden habe.[10] Sie legt jedoch Wert darauf, daß dies nur für die „Königsebene“ gelte. Demgegenüber habe jedoch eine bislang unerforschte „Alltagserfahrung des Antifaschismus“ einen wichtigen Bestandteil ostdeutscher Realität gebildet.(387) Doch bleibt ihre eigene Untersuchung selbst ganz auf der „Königsebene“ und muß sich von daher vor allem mit den Widersprüchen des offiziellen Antifaschismuskonzepts herumschlagen. Dabei versucht sie „Antisemitismus“ und „Antizionismus“ begrifflich voneinander abzugrenzen und bezeichnet die Exzesse der frühen fünfziger Jahre als „politisch-taktischen Antisemitismus“.(389) Zusammenfassend kommt sie zu dem Ergebnis, daß die „Staatspolitik der DDR und die öffentliche Meinung … – mit Ausnahme antijüdischer Repressionen im Gefolge des Slansky-Prozesses – nicht antisemitisch im engeren Sinne“ gewesen seien. Doch sei das „Verhältnis des Staates zu den jüdischen Gemeinden des Landes durch Unwissenheit, Ignoranz und zum Teil auch bewußte politische Instrumentalisierung gekennzeichnet“ gewesen.(397)

Anders als Keßler vermag Angelika Timm dabei zu unterscheiden, daß die staatliche Förderung der jüdischen Gemeinden als Religionsgemeinschaften dennoch auf die Zerstörung jüdischer Identität zielen konnte.(391) Im Ganzen vertritt sie die Auffassung, daß nicht nur die jüdischen Gemeinden, sondern auch antijüdische Haltungen seitens der politischen Führung instrumentalisiert worden seien. Dies führt zu der bemerkenswerten Einschätzung des Antisemitismus als einer Art ’sozialistischer Realpolitik‘: So seien auch die proarabischen und antizionistischen, antiisraelischen Stellungnahmen im Nahostkonflikt nicht „auf eine antijüdische Grundeinstellung zurückzuführen“, sondern hätten sich „aus systemorientierter Parteinahme und realpolitischen Interessen“ ergeben. Doch bemerkt Angelika Timm zugleich an, daß der offizielle Antizionismus der DDR seit Anfang der fünfziger Jahre die Möglichkeit bot, antisemitische Dispositionen in der politischen Führung wie in der Bevölkerung offen zu artikulieren, was auch sie als Förderung eines latenten Antisemitismus einschätzt.(398) So bleibt vor dem Hintergrund ihrer eigenen These eines ‚doppelten Antifaschismus‘ – einerseits ein staatsoffizieller, andererseits ein lebensweltlicher, volkstümlicher – die Frage offen, wie die Wechselwirkungen zwischen dieser Art von offiziellem, „taktischen“ Antisemitismus und populären antisemitischen Dispositionen genau beschaffen waren. Möglicherweise würde sich dann auch der ‚volkstümliche Antifaschismus‘ als Chimäre erweisen.

Für die Bearbeitung der außenpolitischen Dimensionen der Beziehungen zwischen der DDR und den Juden leistete auch Yeshayahu A. Jelinek einen wichtigen Beitrag. Die von ihm herausgegebene Quellenedition konzentriert sich auf die deutsch-israelischen Beziehungen zwischen 1945 und 1965. Sie basiert auf umfangreichen Recherchen in deutschen, israelischen, amerikanischen und britischen Archiven und bietet diese in deutscher Übersetzung. Dieses mit einer nützlichen Einleitung versehene Werk bietet somit die Möglichkeit, die Beziehungen beider deutscher Staaten mit Israel in diesem Zeitraum miteinander zu vergleichen. Zu den thematischen Schwerpunkten gehören unter anderem die Frage der Wiedergutmachung, das Verhältnis zu den arabischen Staaten, aber auch der Eichmann-Prozeß.

Auf die Beziehungen zwischen der DDR und den dortigen jüdischen Gemeinden konzentrieren sich dagegen zwei kurz nacheinander erschienene Arbeiten, wovon die erste als Habilitationsschrift an der Universität Bochum entstand, die zweite als Dissertation an der Freien Universität Berlin. Die Quellenbasis beider Arbeiten, die erste von Lothar Mertens, die zweite von Ulrike Offenberg, weist eine ähnliche Struktur auf. Beide müssen sich vor allem auf die Archivüberlieferung von Staat und Partei beziehen, da sie nur äußerst begrenzt Zugang zur Überlieferung der von ihnen untersuchten jüdischen Gemeinden in der DDR erhielten. Das Material gibt in beiden Fällen deutlich erkennbar den thematischen Zugang vor: In ähnlicher Weise schildern sie die Geschichte der jüdischen Gemeinden in der DDR als einen Versuch von Staat und Partei einerseits, diese zu kontrollieren und zu instrumentalisieren, sowie andererseits als einen Prozeß von Anpassung und gelegentlich auch partieller Resistenz.

Für Lothar Mertens steht dabei im Vordergrund seiner Untersuchung, die durch „Partei und Staat vorgegebenen politischen Rahmenbedingungen für eine religiöse Präsenz der überlebenden jüdischen NS-Opfer unter dem atheistisch-autoritären Regime der SED“ zu analysieren. Die „verschiedenen Facetten der Existenzbedingungen“ reichten dabei, so Mertens, „vom eher distanzierten ‚Absterben‘ der Religion in der ’sozialistischen Menschengemeinschaft‘ der Ulbricht-Ära bis hin zur gezielten außenpolitischen Instrumentalisierung der jüdischen Gemeinden in den späten Honecker-Jahren“.(26) Seine Untersuchung zerfällt in zwei Teile: Die erste, chronologisch geordnete Hälfte des Buches konzentriert sich auf die organisatorische Entwicklung der jüdischen Gemeinden von 1945 bis Anfang der 90er Jahre. Die folgenden, systematisch geordneten Kapitel greifen dagegen spezielle Probleme des Verhältnisses zwischen den jüdischen Gemeinden zu Staat und Partei heraus und entwickeln diese zu Fallstudien.

Im Ergebnis gelangt Mertens dazu, das Verhältnis der jüdischen Gemeinden zu Staat und Partei in vier Phasen einzuteilen, die in etwa auch der Abfolge der vier Präsidenten des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR entsprechen. Die Ära Julius Meyer, die zunächst im Zeichen einer wohlwollenden Haltung gegenüber den Juden gestanden habe, sei in der antisemitischen Interrimsperiode 1950-53 zu Ende gegangen – symbolisiert durch die Flucht Meyers nach Westen. Darauf folgte, so Mertens, von Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre ein „Phase politischer Indifferenz, in der die Gemeinden staatlicherseits weitgehend unbeachtet blieben und ihrerseits unter der Führung von Hermann Baden in kritischer Distanz zum sozialistischen Staat verharrten.“(383) In einer dritten Phase zwischen 1967 bis Anfang der achtziger Jahre hätte die DDR-Führung vor dem Hintergrund der Verschärfung des Nah Ost-Konflikts versucht, „die Juden als Alibi für die antizionistische Politik des Staates zu benutzen“. Dieses Verhalten sei von den SED-Mitgliedern in den jüdischen Gemeinden mitgetragen worden, wobei sich vor allem Verbandspräsident Helmut Aris hervorgetan habe. Unter dem letzten Verbandspräsidenten Siegmund Rotstein hätten die jüdischen Gemeinden in der DDR hingegen eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Dies sei sich jedoch besonders ihrer vermuteten Nützlichkeit für außenpolitische Zwecke geschuldet gewesen, weshalb die neue Fürsorglichkeit besonders innig mit Versuchen der Vereinnahmung und Instrumentalisierung einhergegangen sei. Der kleinen Gruppe jüdischer Bürger sei nunmehr verstärkt „die Rolle von öffentlichen Demonstrationsobjekten“ zugekommen. Nachdem sie in den ersten Nachkriegsjahren „als Alibi für die antifaschistische Politik“ hatten dienen müssen, so Mertens, wurden sie „nun in den achtziger Jahren zu einem Instrument der sozialistischen Entspannungs- und Außenpolitik.“(384) Äußere Anzeichen dafür waren etwa die Gründung des Centrum Judaicums in Ost-Berlin und Bemühungen um die Anstellung eines Rabbiners sowie um verbesserte Beziehungen zu Israel und amerikanischen jüdischen Organisationen.

Auch Mertens läßt dabei keinen Zweifel daran, daß dies in erster Linie dazu dienen sollte, der Außen- und Außenhandelspolitik der DDR größere Spielräume zu eröffnen. Neben Honeckers Wunsch, eine prestigeträchtige USA-Einladung zu erhalten, spielte dabei auch das handfeste Ansinnen um die Zuerkennung der Meistbegünstigungsklausel im Handel mit Nordamerika eine entscheidende Rolle. Interessant ist dabei vor allem Mertens Befund, daß die offizielle DDR-Politik gegenüber den jüdischen Gemeinden in den achtziger Jahren in wachsende Abhängigkeit von der westlichen Öffentlichkeit geriet. Die Versuche, die neubegründeten jüdischen Kontakte 1989/90 noch zur Erhaltung des Fortbestandes einer postsozialistischen DDR zu instrumentalisieren, sei jedoch „am Junktim mit der über Jahrzehnte negierten Wiedergutmachung“ gescheitert.(386) Es bleibt hinzuzufügen, daß selbst wenn dies geglückt wäre, dies vermutlich auch nichts am Ausgang verändert hätte. So besteht die eigentliche historische Ironie in der bis zuletzt herrschenden Überschätzung des jüdischen Einflusses auf die Weltpolitik durch die DDR-Führung. Hier schienen sich der systemimmanente Hang zu verschwörungstheoretischer Analyse mit Elementen des antisemitischen Dispositivs perfekt ergänzt zu haben.

Die Arbeit Ulrike Offenbergs weist naturgemäß erhebliche inhaltliche Überschneidungen auf. Um so mehr bietet es sich an, die Unterschiede des Zugriffes zu verdeutlichen. Ulrike Offenbergs zentrale Frage lautet, warum sich „die Vertreter jüdischer Gemeinden derart distanzlos mit der DDR“ identifiziert hätten?(9) Darin liegt allerdings bereits eine problematische Unterstellung enthalten. So schildert sie die Geschichte der jüdischen Gemeinden in der SBZ bzw. DDR seit 1945 einerseits als Kampf verschiedener Fraktionen um die Dominanz des jüdischen Gemeindelebens, andererseits als von SED-Genossen innerhalb der jüdischen Gemeinden aktiv unterstützten Kampf von Staat und Partei um Kontrolle und Instrumentalisierung dieser Gemeinden.

Ihre Ausführungen zielen zu weiten Teilen darauf, ein deplorables Bild des Verhaltens der jüdischen Gemeinden gegenüber den an sie gerichteten ideologischen Zumutungen des sozialistischen Regimes zu zeichnen. Nach dem Massenexodus 1953 sei nur noch eine führerlose, überalterte Restgemeinde übriggeblieben, die keinerlei Distanz zu Staat und Macht mehr eingehalten habe. Geradezu genüßlich verweist Ulrike Offenberg dazu insbesondere auf die mittlerweile erfolgten zahlreichen Enthüllungen ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi unter wichtigen Funktionären der jüdischen Gemeinden der DDR, die so alles in allem als willfährige Transmissionsriemen der SED-Herrschaft erscheinen.(157f.) Dabei stellen sich bei der Lektüre gelegentlich Bedenken ein, ob hier die Erfolgsperspektive, die in den Akten von Staat und Partei enthalten ist, nicht in allzu unreflektierter Weise übernommen wurde. Deutlich wird jedenfalls das Ziel dieser Arbeit, die jüdischen Gemeinden in der DDR nachträglich zu delegitimieren. Dabei stützt sie sich auf ein normatives Vorverständnis dessen, wie sich Juden in der DDR hätten verhalten sollen. Ulrike Offenberg lehnt den Weg der „Assimilation“ beharrlich ab und macht diese geradezu verantwortlich für die von ihr konstatierte politisch-moralische Malaise: „In Ermangelung religiöser oder kultureller Bindungen an das Judentum nahmen viele Gemeindefunktionäre den staatlich propagierten Antifaschismus als Identifikationsersatz an“(189), tadelt die studierte evangelische Theologin. Immer wieder finden sich in diesem Buch derartige Wertungen, die daraufhin hinauslaufen, daß die solcherart ‚bindungslosen Juden‘ leichte Beute der Staatsideologie werden mußten.

In gewisser Weise konstruiert Ulrike Offenberg damit die Vorgeschichte zu der in der Endphase der DDR durch den Westberliner Sozialwissenschaftler und Journalisten Dr. Mario Offenberg in Ost-Berlin wiedergegründeten orthodoxen jüdischen Gemeinde Adass Jisroel, die von den Nationalsozialisten ausgelöscht worden war. Bei der Schilderung dieser Neugründung divergieren die Darstellungen bei Lothar Mertens und Ulrike Offenberg erheblich, weshalb es sich lohnt, hier etwas näher darauf einzugehen. Mertens zufolge habe es sich bei dieser Wiedergründung im wesentlichen um ein Familienunternehmen gehandelt, und nicht um eine legitime Nachfolge der ehemaligen Gemeinde Adass Jisroel. Die DDR habe sich in ihrer Spätphase vor allem aus Gründen des erhofften außenpolitischen Prestigegewinns von Offenberg instrumentalisieren lassen, obwohl sie um die Fragwürdigkeit dieser Ansprüche gewußt habe. Am Ende habe es sich als besonders hilfreich erwiesen, daß der in den späten achtziger Jahren mit der anwaltschaftlichen Vertretung Mario Offenbergs beauftragte Lothar de Maizière der Übergangsregierung Hans Modrows als stellvertretender Ministerpräsident eintrat und dort für Kirchenfragen zuständig war. Unter seiner Ägide wurde die Angelegenheit zügig im Sinne seines ehemaligen Mandanten entschieden.[11] Damit bestätigt Mertens auf Grundlage umfangreicher archivalischer Recherchen eine frühere journalistische Darstellung des Falles durch Henryk M. Broder.[12]

Ulrike Offenberg läßt die umstrittene Frage unerörtert, inwieweit Mario Offenberg berechtigt war, als legitimer Nachfolger einer Gemeinde ohne Gemeindemitglieder aufzutreten. Für sie steht dagegen ein grundsätzlicher Konflikt im Mittelpunkt: Die jüdischen Gemeinden in der DDR seien „assimilatorisch orientiert und darauf bedacht [gewesen], sich nicht gegen ihre Umwelt abzusetzen. Das fehlende Selbstbewußtsein war mit einem Mangel an jüdischem Wissen und an Wertschätzung der jüdischen Tradition gepaart. Dem stand das traditionsbewußte Judentum der Adass Jisroel gegenüber, das auch notwendige Abgrenzungen gegenüber der nichtjüdischen Umgebung und gegenüber dem Staat vollzog.“[13] Auf diese Weise erweist sich die scharfe Kritik am „assimilatorischen Verhalten“ des „traditionslosen“ Judentums in der DDR zuletzt als Legitimation der umstrittenen Wiederbegründung der orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel durch Mario Offenburg. Dieser hatte sein Traditionsbewußtsein allerdings anscheinend erst nach Abschluß seiner an der Freien Universität Berlin 1974 angenommenen Dissertation über „Kommunismus in Palästina – Nation und Klasse in der antikolonialen Revolution“ erworben.[14]

Es stellt sich so der Verdacht, daß die Studie Ulrike Offenbergs, die zu Mario Offenburg gleichermaßen in familiärer und beruflicher Verbindung steht, Teil einer heftigen Auseinandersetzung um Legitimierung und Delegitimierung darstellt, die unter den jüdischen Gemeinden vor allem im Osten Berlins nach 1990 geführt wurde. Den Hintergrund des Konflikts bildete nicht zuletzt die Frage der Aktivlegitimation für das umfangreiche Vermögen des unter nationalsozialistischer Herrschaft geraubten Vermögens der ehemaligen jüdischen Gemeinden. So stimmen Ulrike Offenberg und Lothar Mertens zumindest am Schluß ihrer Darstellungen, der das Ende der jüdischen Gemeinden in der DDR betrifft, weitgehend überein: Deren 1990 unter Leitung Heinz Galinskis erfolgte Vereinigung mit den westlichen jüdischen Gemeinden sei in ausgesprochen autoritärer und ruppiger Manier durchgeführt worden. Die östliche Braut habe zwar eine reiche Mitgift in Gestalt von Rückerstattungsansprüchen in die gemeinsame Ehe eingebracht, doch seien die weniger als 400 jüdischen Gemeindemitglieder im Osten Deutschlands unter den etwa 35.000 Gemeindemitglieder im Westen praktisch verschwunden und hätten auch jegliches Mitspracherecht verloren.[15]

Bei der Bilanz des Gesamteindruck der in den letzten Jahren erschienenen, manchmal auf nahezu exzessive archivalische Materialbasis gestützten Studien ergibt sich ein zwiespältiger Eindruck: Wir wissen nun viel mehr, aber das Verständnis ist nicht im gleichen Maße gewachsen. Verglichen mit den älteren Studien zum Verhältnis der DDR und den Juden gibt es wenig Überraschungen. Das bestehende Bild wird vielfach differenziert, ausgemalt, belegt, aber kaum einmal umgestürzt. Dieser auch in anderen Bereichen der DDR-Forschung gelegentlich auftauchende Eindruck mag zum einen mit der Struktur der sozialistischen Ideologie und Herrschaft zu tun haben, vielleicht auch mit der Qualität älterer Forschung. Möglicherweise hat es aber auch damit zu tun, daß zunächst einmal die tradierten Fragestellungen noch einmal neu durchdekliniert wurden, nur diesmal auf der Basis zugänglicher Archive des ehemaligen Herrschaftsapparats. Die gelegentlich auftretende Monotonie, die durch das immer wieder neue Belegen von Instrumentalisierung und Funktionalisierung irgendwelcher gesellschaftlicher Gruppen durch Staat und Partei in der DDR entsteht, läßt sich daher vielleicht am ehesten durch neue Fragestellungen durchbrechen. Deshalb sollen im folgenden im Anschluß an die oben besprochenen Arbeiten einige vielleicht erfolgversprechende Perspektiven vorgeschlagen werden:

Erstens sollte man die Stellung der Juden in der DDR stärker systematisch mit der Rolle der christlichen Kirchen vergleichen. Zum einen ließen sich dabei vermutlich einige Spezifika im Umgang mit Juden in der DDR genauer bestimmen. Zum anderen wäre es im Anschluß an die im Hinblick auf die christlichen Kirchen bereits intensiv geführte Diskussion über die Verstrickung kirchlicher Würdenträger in das Informantennetz der Stasi vielleicht auch möglich, insbesondere die mit der Rolle des Informellen Mitarbeiters in gesellschaftlichen Organisationen verbundenen Probleme differenzierter analysieren.[16] Vor allem gilt es dabei die Funktionalisierung des IM-Status als Totschläger in gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die größere Frage wäre dabei, wie im Falle der jüdischen Gemeinden das komplizierte Verhältnis von Anpassung und Resistenz beschaffen war. Stärker als dies bislang erfolgt ist, könnten die Juden in der DDR somit auch als ein Fallbeispiel für das Herrschaftssystem der DDR und seine Strukturbedingungen dienen.

Zu fordern wären auch begrifflich stärker geschärfte Analysen zum Verhältnis von „Antisemitismus“ und „Antizionismus“. Soweit diese Unterscheidung in den bisherigen Studien erfolgte, waltet oftmals ein gewisser Dezisionismus. Erfolgversprechend könnte auch hier die Einbettung in Vergleichsperspektiven sein. Vor allem aber könnten die Systemgrenze der DDR überschreitende Untersuchungen etwa zurück in nationalsozialistische Zeit vielleicht auch dazu führen, unser Verständnis von der realen Akzeptanz und Bedeutung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung zu verbessern. Ein zugegebenermaßen willkürlicher Eindruck aus der Lektüre der Tagebücher Viktor Klemperers, die Stimmungsberichte aus Dresden in der Kriegszeit wiedergeben[17], wirft etwa die Frage auf, inwieweit die antikapitalistische Komponente des Antisemitismus, die dort sehr im Vordergrund steht, im Verhältnis zu seiner rassistischen Komponente vielleicht stärker gewichtet werden müßte, zumal da sie später mühelos die Anschlußfähigkeit zu einer antifaschistischen Einstellung herstellte. Hieraus ergeben sich möglicherweise weitreichende Konsequenzen für Gestalt und Kontinuitätslinien des antisemitischen Dispositivs.

Die Untersuchung jüdischen Lebens in der DDR sollte zudem nicht in der bisherigen Ausschließlichkeit unter die Perspektive des Verhältnisses zu Staat und Partei gestellt sein. So wäre etwa auch die Frage des Verhältnisses der in der DDR lebenden Juden zu den Juden in Israel und der Diaspora zu fragen. Inwieweit bestand beispielsweise auch für in der DDR lebende Juden ein Rechtfertigungsdruck im Hinblick darauf, daß sie sich nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes wieder auf deutschem Boden ansiedelten? Im Falle der Bundesrepublik spielte dies bekanntlich eine gewichtige Rolle.[18] Kann man so vielleicht gar hypothetisch formulieren, daß derartiger Druck die Juden in der DDR stärker an die Seite des Regimes trieb? Zu fordern wäre also auch hier, nicht mehr länger mehr oder weniger ausgeprägt den Blick der politischen Eliten der DDR auf „die Juden“ zu reproduzieren, der diese als Teil eines monolithischen „Weltjudentums“ betrachtete. An seine Stelle sollte die Beschäftigung mit der Pluralität jüdischer Gruppierungen, Interessen und Identitäten stehen.

Daraus folgt als ein weiteres Desiderat, sich auch mit dem Problem der Einbeziehung derjenigen Juden, die nicht in Gemeinden organisiert waren, stärker zu beschäftigen. Dies führt letztlich zum Problem jüdischer Identitätsbildung unter den Bedingungen der DDR. Welche Veränderungen lassen sich hierbei in der Zeit des Bestehens dieses Staates feststellen? Was hat es dabei zu bedeuten, daß es bereits einige Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR zu Bemühungen der jüdischen Identitätsvergewisserung außerhalb der jüdischen Gemeinden kam? Langfristig führt auch diese Frage über den engeren Zeitraum der DDR hinaus: Sie mündet letztlich in eine Untersuchung der Veränderungen, die seit Beginn der 90er Jahre durch den Zustrom meist religionsferner Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in die jüdischen Gemeinden Ostdeutschlands ausgelöst wurden. Doch bietet sich das Thema des Verhältnisses der DDR zu den Juden ohnehin in besonderer Weise an, die DDR sei es durch synchrone oder diachrone Vergleiche aus ihrer historiographischen Insellage herauszuholen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu insbesondere Jeffrey Herf, Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven, in: VfZ 42 (1994), S. 635-667; ders., Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 130-193.

[2] Jerry E. Thompson, Jews, Zionism, and Israel: The Story of the Jews in the German Democratic Republic since 1945, Ph. D. Thesis Washington State University 1978. Zu erwähnen wäre auch die Interviewsammlung von Robin Ostow, Jüdisches Leben in der DDR, Frankfurt a. Main 1988.

[3] Peter Dittmar, DDR und Israel. Ambivalenz einer Nicht-Beziehung, Teil I u. II, in: Deutschland-Archiv 10 (1977), S. 736-754, 848-861.

[4] Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen. Zwischen Ressentiment und Ratio, Köln 1970.

[5] Keßler, S. 148 f.

[6] Ebenda, S. 150 f.

[7] Siehe auch die Kritik von Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Zirkel, S. 13.

[8] Auf dieser Studie basiert auch ihre Spezialstudie zum Problem der jüdischen Wiedergutmachungsforderungen an die DDR: Angelika Timm, Jewish Claims against East Germany. Moral Obligations and Pragmatic Policy, Budapest 1997.

[9] Vgl. hierzu auch die scharfen Vorwürfe bei Wolffsohn, S. 80-85.

[10] Timm, S. 400.

[11] Mertens, S. 345-374.

[12] Henryk M. Broder, Juden rein!, in: ders., Erbarmen mit den Deutschen, Hamburg 1993, S. 85-115.

[13] Offenberg, S. 245.

[14] 1977 hatte Mario Offenberg zudem auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival für seinen Film „Der Kampf um den Boden der Palästiner in Israel“ einen Preis der PLO erhalten. Siehe Mertens, S. 345.

[15] Offenberg, S. 270-273; Mertens, S. 154 ff.

[16] Vgl. hierzu etwa Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 473-499.

[17] Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1998, hrsg. v. Walter Nowojski u. Mitarbeit v. Hadwig Klemperer, 10. Aufl., Berlin 1998.

[18] Vgl. dazu etwa Münch, Peter L.: Zwischen „Liquidation“ und Wiederaufbau: die deutschen Juden, der Staat Israel und die internationalen jüdischen Organisationen in der Phase der Wiedergutmachungsverhandlungen, in: Historische Mitteilungen 22 (1997), S. 81-111.

 

Editorische Anmerkung

Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=37

Vom Kampf gegen den „Kosmopolitismus“ zum Kampf gegen den „Aggressorstaat“

Dieser Beitrag soll sich mit dem Antizionismus und Antisemitismus in der DDR beschäftigen. Dabei scheinen, gerade wegen der Abwehrreaktionen, die insbesondere Vertreter der Kommunistischen Plattform (KPF) der PDS bei der Behandlung von Tabu-Themen zeigen (z.B. in der Tageszeitung junge welt vom 25. u. 26.09.1998), einige Vorbemerkungen notwendig.

VON THOMAS LEUSINK, ERSCHIENEN IM TELEGRAPH – OSTDEUTSCHE ZEITUNG NR. 3/4 1998

Dieser Beitrag soll sich mit dem Antizionismus und Antisemitismus in der DDR beschäftigen. Dabei scheinen, gerade wegen der Abwehrreaktionen, die insbesondere Vertreter der Kommunistischen Plattform (KPF) der PDS bei der Behandlung von Tabu-Themen zeigen (z.B. in der Tageszeitung junge welt vom 25. u. 26.09.1998), einige Vorbemerkungen notwendig. Viele von uns erinnern sich ganz bestimmt noch gut an ein Argument der SED-Dogmatiker, mit dem sie versuchten, Kritik zu unterdrücken: Kritik, erst recht veröffentlichte, und Diskussionen arbeiten dem Klassenfeind in die Hände und können deshalb nicht zugelassen werden.

Auf der einen Seite stehen die unermüdlichen Bemühungen des Staates BRD und seiner Beamten, die DDR zu delegitimieren. Das hat verschiedene Gründe, denen jetzt und hier nicht nachgegangen werden soll. Klar ist jedoch, daß die ideologische These vom Totalitarismus eine analytische, folglich differenzierende Auseinandersetzung mit Geschichte verhindert. Wenn beispielsweise die beauftragte Behörde für die Stasiunterlagen neue Erkenntnisse veröffentlicht, so z.B.: „Hunderte rechtsextreme Delikte in der Nationalen Volksarmee“ (Tageszeitung Tagesspiegel vom 24.09.1998), geht es ihr kaum um „Aufklärung“, sondern es geht ihr darum, die Medienmaschine zu festgelegten Zeiten mit vorsortierten Meldungen anzutreiben.

Auf der anderen Seite sind wir sicher, daß es unbedingt notwendig ist, sich mit bestimmten, für den einen oder die andere unangenehmen Themen kritisch auseinanderzusetzen. Wir brauchen diese Auseinandersetzung mit Fehlern und Schwächen der linken Bewegung, um uns letztlich selbst zu stärken.

Neuanfang

1946/47 und in den folgenden Jahren kehrten einige tausend Juden aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland zurück, ein Teil davon aus politischen Motiven in die Sowjetische Besatzungszone.

Z.B. Romy Silbermann: „Wir baten sofort nach Kriegsende darum, nach Deutschland zurückkehren zu dürfen, und zwar bei der sowjetischen Besatzungsmacht, denn für uns kam nur ein sozialistisches Deutschland in Frage … Ich glaubte als Deutsche, als Kommunistin, als Humanistin, daß dort in Berlin mein Platz war. Ich dankte … Palästina und dem jungen Staat Israel, daß sie mir die Möglichkeit zum Überleben gegeben hatten. Ich beschloß, so schnell wie möglich nach Berlin zurückzukehren … Ich kam nicht zurück, weil ich verzeihen wollte … ich wollte meinen Teil dazu beitragen, ein anderes Deutschland erstehen zu lassen. Das Deutschland, für das ich erzogen worden war.“ /1/

1947/48 gab es seitens der „Ordnungskräfte“ widersprüchliche Reaktionen darauf: Teilweise wurde keine Einreise gewährt, teilweise der Arbeitsort und der Wohnort zugewiesen und mit Auflagen versehen. Diese Reaktionen hatten zum überwiegenden Teil keine antisemitische Grundlage, ursächlich war das generelle Mißtrauen gegenüber denen, die im Westen (d.h. alle Länder außer der Sowjetunion) in der Emigration waren.

Am 04.05.1948 wurde der Staat Israel gegründet. Am 14.05. wurde die Unabhängigkeits-Proklamation veröffentlicht (zeitgleich begann der erste Israelisch-Arabische Krieg). Auch in der Jüdischen Gemeinde Dresden fand zur Staatsgründung eine Feierstunde statt, bei der auch Vertreter der Landesleitung der SED zur Gratulation anwesend waren.

Am 12. Juni 1948 gab die Presseabteilung des ZK der SED eine Information heraus, die die damalige pro-israelische Einstellung der sowjetischen Regierung verdeutlicht, unter deren Einfluß sie stand:

Information der Abt. Werbung u. Presse des ZK der SED am 12. Juni 1948:

„Im Kampfe um Palästina stoßen gewaltige Interessen des angloamerikanischen Imperialismus zusammen … Die jüdische werktätige Bevölkerung kämpft um ihre Heimstätte. … Der Kampf der jüdischen Werktätigen in Palästina ist ein fortschrittlicher Kampf. Er richtet sich nicht gegen die werktätigen Massen der Araber, sondern gegen deren Bedrücker. Er findet die Unterstützung der Sowjetunion und der gesamten fortschrittlichen Menschheit.“

Auch am 8. Mai hatte der SED-Pressedienst eine projüdische Meldung zu den militärischen Auseinandersetzungen veröffentlicht:

Meldung des SED-Pressedienstes vom 8. Mai 1948: „Die Jewish Agency und die Haganah (jüdische Selbstverteidigung) ließen sich jedoch von dem hinterhältigen Verhalten der USA-Imperialisten nicht beirren. Seit Monaten waren bereits heftige Kämpfe zwischen den Kräften der Haganah und der Arabischen Legion im Gange, die weitere 2.400 Todesopfer u. 5.100 Verletzte kosteten. Der Jewish Agency und der Haganah blieb infolgedessen keine andere Alternative, als entweder vor der Arabischen Legion, die vorwiegend aus faschistischen Elementen zahlreicher Nationalitäten zusammengesetzt ist und die zum Teil unter der Führung von deutschen SS-Leuten der Rommel-Armee steht, zu kapitulieren oder alles daran zu setzen, um die Teilung Palästinas und damit den Beschluß [der UNO – T.L.] aus eigener Kraft durchzuführen … Es kam nun darauf an, dieses Land auch zu halten.“

Für kurze Zeit hatte die Sowjetunion mit der Rede von Andrej Gromyko im November 1947 vor der UNO die alte antizionistische Kominternlinie aufgegeben. Im Herbst 1948 allerdings schwenkte sie wiederum auf diese alte Linie ein. Dies hatte innen- wie außenpolitische Gründe. Die SED folgte diesem alten Kurs bis 1989: „Unter bewußter Mißachtung der von der UN beschlossenen Regelung des Palästina-Problems wurde 1948 durch einen Gewaltakt das künstliche Staatsgebilde Israel geschaffen.“ /2/

Die SED sah sich in der Tradition der Arbeiterbewegung, in der die Aufhebung des Klassenwiderspruches sozusagen wie von selbst die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erledigt, da dieser dann „mit der Wurzel ausgerottet“ sei und alle Menschen zu gleichberechtigten Gesellschaftsmitgliedern werden.

Der vorbereitete Prozeß

Bereits 1950 setzten die ersten „Säuberungen“ in der DDR ein, nachdem in ganz Osteuropa eine von Stalin und seinen Getreuen inszenierte Prozeßwelle angelaufen war. Beginnend in Albanien, dann in Bulgarien, anschließend in Ungarn, hatten Schauprozesse gegen „Agenten und Saboteure“ stattgefunden. Von der ersten Welle betroffen waren in der DDR vor allem Juden. Sie wurden aus der SED ausgeschlossen und/oder verloren ihre Arbeit und/oder ihre Funktionen, z.B.: Bruno Goldhammer (früher KPD-Funktionär, Intendant des Berliner Rundfunks), Leo Bauer (Chefredakteur beim Deutschlandsender), Lex Ende (ehemal. Chefredakteur des ND), Rudolf Feistmann (Redakteur Außenpolitik des ND), Alexander Abusch, Wolfgang Langhoff, Jürgen Kuczynski und viele andere jüdische Kommunisten.

Schon im Zusammenhang mit den Überprüfungen der Parteikontrollkommissionen im Frühjahr 1950 wurde bei den Westemigranten gesondert die jüdische Herkunft vermerkt. Im Januar 1952 wurde die SED-Führung durch die Sowjetische Kontrollkommission (SKKD) aufgefordert, alle Juden zu registrieren und Erich Mielke als damaliger Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit angehalten, eine solche Kartei anlegen zu lassen. /3/4/ Der Staat verfügte auch über Gemeindemitgliederlisten. /5/ Diese Unterlagen konnten dann genutzt werden, als es 1952/53 darum ging, Juden und Emigranten, die aus „westlichen“ Ländern zurückgekehrt waren, u.a. mit dem „Kosmopolitismus“-Vorwurf zu Parteifeinden zu erklären.

Meyers Neues Lexikon, VEB Bibliograph. Institut Leipzig, 1963: „Kosmopolit: 1. im 18. Jh. aufgekommener Begriff für „Weltbürger“ im Sinne der Aufklärung; heute unter Bedeutungswandel Anhänger des Kosmopolitismus. – 2. Pflanzen- und Tiergeographie auf der ganzen Erde, an zusagenden Standorten, verbreitete Art; ökologisch sehr anpassungsfähig … Kosmopolitismus: 1. unwissenschaftliche, äußerst reaktionäre Ideologie der imperialistischen Bourgeoisie, die in verschiedenen Spielarten auftritt. Der K. verlangt den Verzicht auf das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, auf staatliche Unabhängigkeit und Souveränität … Er wird bes. vom amerikanischen … Imperialismus propagiert, deren Expansionsbestrebungen er apologetisch mit „allgemein menschlichen Interessen“ zu verschleiern sucht. Der K. ist eine demagogische, historisch unwahre Kritik der angeblich „überlebten“ und „egoistischen“ Ideen der nationalen Souveränität … Die Kehrseite des K. ist der bürgerliche Nationalismus. K. und Nationalismus sind dem proletarisch-sozialistischen Internationalismus und Patriotismus völlig entgegengesetzt … 2. Vorkommen einer Pflanzen- oder Tierart auf der ganzen Erde …“.

Meiner Meinung wurde das Wort „Kosmopolit“ als Synonym für Jude benutzt. So wurde der Kosmopolitismus zur verwerflichen Ideologie, derer sich vor allem Juden bedienten!

Bereits 1948 wurde das im Jahre 1942 gegründete „Jüdische Antifaschistische Komitee“ in der Sowjetunion aufgelöst, seine Mitglieder Anfang 1949 verhaftet und 15 von ihnen im Juli 1952 hingerichtet.

Vom 20. – 27. November 1952 fand in Prag der „Prozeß gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze“ statt, von den 14 Angeklagten waren 11 Juden. Sie wurden angeklagt des Hochverrats, der Spionage, Sabotage und des Militärverrats, und wurden „als trotzkistisch-titoistische, zionistische, bürgerlich-nationalistische Verräter“ bezeichnet. Sie gehörten fast alle der Partei- und Staatsführung an. Sie waren bereits 1951 verhaftet worden, drei bekamen lebenslänglich, die anderen wurden hingerichtet. (1963 wurden die Urteile aufgehoben.)

Im Dezember 1952 hielt Klement Gottwald (Rückkehrer aus dem sowjetischen Exil, Vorsitzender der KPC und Staatspräsident) ein Referat zum Slansky-Prozeß. Darin glaubte er noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen zu müssen, daß die „Entlarvung“ und „Ausmerzung“ der „imperialistischen Agentur“ des Zionismus in der CSR nichts mit Antisemitismus oder Rassenwahn gegen Juden zu tun hat. /6/ Es wurde versucht, den Unterschied deutlich zu machen. /7/

Um sich gegen den Antisemitismus-Vorwurf zu schützen, bemühte man sich, auch unterstützende Statements von Juden einzuholen, ein auch in der Bundesrepublik nicht unübliches Verfahren.

Schreiben der Abteilung Propaganda der Leipziger Volkszeitung an Helmut Looser vom 10. Dezember 1952: „Werter Genosse Looser [Helmut Salo Looser war Vorsitzender der Leipziger Gemeinde-T.L.] … Wir halten es im Zusammenhang mit dem Slansky-Prozeß für wichtig, wenn eine leitende Persönlichkeit der jüdischen Gemeinde zur Frage des angeblichen „Antisemitismus“ in der CSR Stellung nimmt und bitten Dich, für uns einen entsprechenden Artikel zu schreiben. Die Linie des Artikels findest Du in dem beiliegenden Artikel aus dem Pressedienst. … Es kommt vor allem darauf an, die Agenten Israels, die Agenten des internationalen Zionismus und die Lüge vom „Antisemitismus“ in der CSR zu entlarven. Man muß nachweisen, daß die Zerschlagung der Slansky-Bande kein antisemitischer Akt, sondern im Gegenteil ein Schlag gegen die amerikanischen Rasse- und Pogromhetzer war. Ein Sieg der Slansky-Bande hätte die Errichtung des Faschismus in der CSR bedeutet …“ usw. /3/ Looser übrigens zog der Loyalität gegenüber Staat und Partei und seiner möglichen Verhaftung die Flucht in den Westen vor.

Drei Wochen nach dem Prozeß in Prag veröffentlichte das ZK der SED die „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“. (Das Gerichtsprotokoll erschien Anfang 1953 in deutscher Übersetzung in großer Auflage /8/9/.) Eine der Lehren war, Juden als Angestellte von Stadt- und Bezirksverwaltungen zu entlassen, nicht weil sie Juden waren, aber weil sie möglicherweise zionistische Agenten waren.

Zur Vorbereitung von Verhaftungen in der DDR wurden die Kaderunterlagen der „Genossen jüdischer Abstammung“ überprüft. /3/4/ Es fanden Hausdurchsuchungen in den Räumen Jüdischer Gemeinden und bei Personen statt, gegen die offensichtlich die Absicht bestand, Prozesse zu führen. Vorsitzende der Gemeinden wurden verhört und mehrere Juden zur Vorbereitung eines entsprechenden Prozesses in der DDR verhaftet z.B.: Bruno Goldhammer, Hans Schrecker (Vorsitzender der Nationalen Front in Sachsen), Leon Löwenkopf (früher Funktionär in der SPD, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und Präsident der Sächsischen Notenbank).

Zahlreiche Politiker flüchteten nach ersten Verhören, um Verhaftungen vorzukommen, z. B. Leo Zuckermann (zeitweilig als Staatssekretär Chef der Kanzlei des Präsidenten W. Pieck), Julius Meyer (Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden, Volkskammerabgeordneter, VVN-Mitglied) mit ihnen auch die meisten Gemeindevorsitzenden. Sie wurden nachträglich aus der VVN ausgeschlossen und zu zionistischen Agenten und Verrätern erklärt. Paul Merker, Nichtjude, wurde wegen seiner Forderung nach „Wiedergutmachung“ als „Subjekt der US-Finanzoligarchie“ beschimpft. 1918 USPD-, 1920 KPD-Mitglied, 1926 ZK-, 1928 Politbüro-Mitglied, war Merker 1946 aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt, wurde Mitglied des ZK und des Politbüros der SED, 1950 aus der SED ausgeschlossen, 1952 verhaftet und in einem Geheimprozeß erst im März 1955 (!) verurteilt (1956 entlassen und rehabilitiert).

Beschluß des ZK der SED zu Paul Merker: „Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß Merker ein Subjekt der USA-Finanzoligarchie ist, der die Entschädigung jüdischen Vermögens nur forderte, um dem USA-Finanzkapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen. Das ist die wahre Ursache seines Zionismus.“

Merker habe auch die Haltung des kleinbürgerlich-opportunistischen „Bund“ vertreten, der statt der Assimilation der Juden ihre national-kulturelle Autonomie forderte. Auf die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Bundisten u. Zionisten soll hier nicht eingegangen werden.

Unter Zionismus verstanden die DDR-Propagandisten eine national-chauvinistische Ideologie der jüdischen Bourgeoisie. Er sei eine Form des Rassismus und der rassistischen Diskriminierung. Er habe die reaktionäre Idee von der jüdischen Gemeinschaft entwickelt, die die Klassenfrage ignorierte, um das jüdische Proletariat vom revolutionärem Klassenkampf abzulenken und die Lösung der sog. Judenfrage in der Schaffung eines jüdischen Nationalstaates zu sehen. Natürlich konnte eine differenzierte Darstellung der unterschiedlichen Strömungen des Zionismus, auch des sozialistischen Zionismus, nicht erfolgen, da es mit Ideologie nicht zu vereinbaren ist, differenzierte Auffassungen über politische Gegenstände zu entwickeln.

Am 13. Januar 1953 meldete die Prawda: „Agenten der internationalen bürgerlich-nationalistischen jüdischen Organisation ‚Joint‘, die vom amerikanischen Nachrichtendienst gegründet worden ist … abscheuliche Spione und Mörder in der Maske von Professoren und Ärzten … hatten sich zum Ziel gesetzt … das Leben aktiver öffentlicher Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen.“ In dem sich anbahnenden neuen Prozeß wurde ein Vorspiel zu neuen massiven Säuberungen gesehen. /10/11/12/

Nicht nur die russischen Juden lebten in Angst. Es lag in der Luft, daß die DDR hinter dem ideologischen Vorbild nicht zurückbleiben wollte. Es gab zahlreiche Verhöre. Es setzte eine große Fluchtbewegung ins Ausland ein, so daß von ungefähr 5.000 Juden (1947) nur ca. 1.500 übrig blieben /13/ (abweichende Zahlenangaben: 900 Juden, von ca. 2.600 Gemeindemitgliedern, verließen die DDR). Juden, die z.T. bei ihrer Rückkehr bewußt die Sowjetische Besatzungszone gewählt hatten.

Im März 1953 starb Stalin und wenig später kam aus Moskau die Weisung zur Einstellung der Repression. Da aber viele Juden die DDR bereits verlassen hatten, sollten die Gemeinden sich davon nicht mehr erholen.

Wie in den anderen Ländern Osteuropas ging es bei den Prozessen darum, eigene Machtpositionen zu festigen und kritische Stimmen einzuschüchtern oder auszuschalten.

Anfang 1956 fand der XX. Parteitag der KPdSU statt, mit Stalin und dem Stalinismus wurde sich zeitweilig kritisch auseinandergesetzt. Im Zusammenhang mit den Prozessen wurde in der Sowjetunion von offizieller Seite von „antijüdischen Handlungen“ gesprochen. /15/

Juden blieben in der DDR unter Beobachtung, da sie offensichtlich einen Unsicherheitsfaktor für den Staat und einige seiner Funktionäre darstellten; die Begründung war, sie seien sozial nicht mit der Arbeiterklasse verbunden, da sie zumeist kleinbürgerlichen Schichten entstammten, sie hätten überall im Westen Verwandte und Bekannte und bildeten daher für den Klassengegner sehr geeignete Ansatzpunkte. /4/

„Schade um jede Mark“ – die Ablehnung von „Wiedergutmachung“

Nur im Land Thüringen wurde im September 1945 ein „Wiedergutmachungsgesetz“ verabschiedet. Die anderen Länder der Sowjetischen Besatzungszone folgten Thüringen nicht. Eine Übernahme in die DDR-Gesetzgebung fand 1949 nicht statt. Selbst Siegbert Kahn, der 1948 eine kleine Schrift veröffentlichte /14/, aus der später immer wieder gern zitiert wurde (sozusagen die Parteirichtlinie, wenn es um Antisemitismus ging), hatte die Wiedergutmachung für die an den Juden begangenen Verbrechen gefordert. Ulbricht dagegen soll gesagt haben: Da die Opfer des Faschismus die entscheidenden Träger dieses Staates sind, wäre es doch lächerlich, wenn sie sich selbst eine Wiedergutmachung zahlen wollten. Und die Juden? Nun, wir waren immer gegen die jüdischen Kapitalisten genauso wie gegen die nichtjüdischen. Und wenn Hitler sie nicht enteignet hätte, so hätten wir es nach der Machtergreifung getan.

Bei der „Wiedergutmachung“ ging es eigentlich um Restitution, Reparation, materielle Entschädigung für geraubtes („arisiertes“) Eigentum. Manche verstanden darunter irrtümlich „Wiedergutmachung“ für Mord und Folter, physisches und psychisches Leid.

Die SED sah die DDR als antifaschistischen Staat nicht in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, für „Wiedergutmachung“ empfand sie deshalb keine Verpflichtung. Zudem würde den in der DDR lebenden ehemals verfolgten Juden Hilfe und Unterstützung gewährt. In anderem Zusammenhang erklärte sie, die DDR hätte die ihr von den Alliierten auferlegten Reparationen abgeleistet. Natürlich ein Widerspruch: Warum sollte man Reparationen zahlen, wenn die eigene Bevölkerung mit der Vergangenheit, den Verbrechen des NS-Staates nichts zu tun hat? Die Mitläufer und Faschisten hatte man längst alle (ideologisch) nach Westdeutschland geschickt, wenn sie nicht selbst schon geflüchtet waren. Die 16 Millionen in der DDR brauchten sich diesbezüglich keine Fragen mehr zu stellen, sie hatten in der Mehrheit das Identifikationsangebot angenommen und so schon immer zu den Gegnern des faschistischen Systems gehört. Der Faschismus war im DDR-Geschichtsbild das Werk „der reaktionärsten und aggressivsten Teile des deutschen Finanzkapitals“, diese hatten deshalb ausschließlich die Verantwortung zu tragen. Die Arbeiterklasse war unterdrückt und terrorisiert, daß deutsche Volk mißbraucht, verführt, belogen und betrogen worden, sozusagen Opfer des Nationalsozialismus. So war die deutsche Bevölkerung der DDR von Verantwortung für die NS-Verbrechen und der Auseinandersetzung mit dieser ausgenommen.

Im Jahr 1976 wollte das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer bedürftigen US-Bürgern jüdischen Glaubens, die vom Naziregime verfolgt wurden, aus humanitären Gründen eine einmalige finanzielle Unterstützung gewähren. Dabei handelte es sich insgesamt um eine Million Dollar. Die „Conference on Jewish Claims against Germany“ lehnte ab. (Die Bundesrepublik soll bis zu diesem Zeitpunkt ca. 25 Milliarden Dollar gezahlt haben.) Die DDR hatte mit dem Angebot jedoch zum erstenmal auch ihre Verantwortung für eine „Wiedergutmachung“ anerkannt.

In den 50er und 60er Jahren wurde immer gegen die Zahlungen der Bundesrepublik polemisiert, sie wurden als versteckte Militärhilfe für Israel, als Unterstützung für die Aggressoren dargestellt, insbesondere gegenüber den arabischen Staaten.

Mitte der 60er Jahre warb die DDR vehement um die arabischen Staaten und ihre Staatsmänner. Mit deren Hilfe sollte es gelingen, die Hallstein-Doktrin (automatischer Abbruch diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik zu Staaten, die die DDR anerkennen) zu durchbrechen, um eine wachsende internationale Anerkennung zu erreichen. Ende der 60er Jahre begannen tatsächlich die Anerkennung der DDR und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.

Gern übernahm die staatliche Nachrichtenagentur ADN Meldungen aus arabischen Quellen. So fanden sich unzählige kommentarlose Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Z.B. forderte im „Horizont“, der außenpolitischen Zeitung der SED, 1969 der Präsident der Republik Irak (Ahmed Hassan Al Bakr) die „Ausrottung des bösartigen zionistischen Tumors mit seinen Wurzeln“. Unkommentierte antizionistische Propaganda nährte so erneut antisemitische Ressentiments und Vorurteile. Den Zionisten und Israel widmete sich der Propagandaapparat dabei intensiver und häufiger, als „anderen imperialistischen Staaten“.

So stellte Nahum Goldmann (1938 bis 1977 Präsident des Jüdischen Weltkongresses) 1976 in einem Gespräch fest: „Von allen kommunistischen Staaten verhält sich die DDR zweifellos am feindseligsten gegenüber Israel, und ihre Presse ist überaus aggressiv.“ /15/

Die Gemeinden und ihre Vertreter haben sich immer geweigert, Israel öffentlich zu verurteilen. Die Antizionisten haben in ihrer Neigung zur Vereinfachung nie begriffen, daß dies nicht einschloß, die Politik Israels gegenüber den Palästinensern unkritisch zu sehen. Wie mit widerständigen Juden umgegangen wurde, die gegen die immer schamlosere antiisraelische Propaganda auftraten, beschreibt Peter Maser am Beispiel von Eugen Gollomb, einem „verdienten Kämpfer gegen den Faschismus“, Auschwitzhäftling, Partisan und Offizier in der polnischen Volksarmee, Vorsitzender der Leipziger Gemeinde von 1967-1988. /16/

Antisemitismus – Ja und Nein

Natürlich fand man auch immer Juden, die die Ansichten von SED und Politbüro praktisch jüdisch bekräftigten und die gleichen Argumentationslinien vertraten. Die Aussage, es gebe keinen Antisemitismus, weil er „in der DDR mit seinen ökonomischen Wurzeln ausgerottet worden“ sei, wurde jedoch nicht dadurch wahrer, daß sie ein Jude aussprach. Mit der Zunahme antisemitischer Vorfälle wurden auch ehemals staatsloyale oder eher zurückhaltende Gemeindemitglieder und Nichtmitglieder in ihrer Kritik in den späten 70er und vor allem in den 80er Jahren immer deutlicher.

Während Peter Kirchner (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Ostberlin) 1974 in einem Interview sagte, daß Juden in der DDR in einer Gesellschaft leben, in der Antisemitismus ausgerottet ist /17/, mußte er 1985 in einem Interview feststellen: „…daß auch wir nicht mehr herum können, die hautnahe Verwandtschaft dieser antiisraelischen Einstellung zum traditionellen Antijudaismus festzustellen. Wenn ein heranwachsender Jugendlicher fast täglich – aus politischen Gründen – mit negativen Daten über die israelischen Juden gefüttert wird, kann er kaum umhin, diese negative Zeichnung auch auf die Juden in seiner Umgebung zu übertragen. Wir haben diese Befürchtungen auch gerade jetzt wieder dem Staatssekretär für Kirchenfragen mit Nachdruck vorgetragen und die Bitte geäußert, den historisch-kulturellen Anteil der Juden an der deutschen Geschichte besser hervorzuheben, um ein objektiveres Bild von den Juden zu vermitteln.“ /18/

Über antisemitische Vorfälle wurde selbstverständlich nicht in den Medien berichtet. Beispielsweise seien hier die gelegentlichen Friedhofsverwüstungen genannt: Zittau 1947, Berlin 1953, Berlin 1971, Dresden 1973, Zittau 1974, Potsdam 1975, Dresden 1977, Berlin 1977, 1978, 1988 – eine mit Sicherheit unvollständige Aufzählung. Allerdings sind diese Beschädigungen und Schmierereien im Vergleich zu der Vielzahl der antisemitischen Ausfälle in der Bundesrepublik in ihrer Zahl fast unbedeutend. Es protestierten jedoch auch hier, wie in der Bundesrepublik, fast immer zuerst die Juden, als sei der Antisemitismus nicht vor allem eine Angelegenheit der Nichtjuden. In der SED-Bezirks-„Berliner Zeitung“ tauchte in Jahresabständen immer mal wieder ein karikierter Jude – im Dezember 1985 ganz in Stürmermanier mit Hakennase – auf, als israelischer Siedler oder Soldat in den besetzten Gebieten. Den Protesten folgten Entschuldigungen. Die Konsequenzen für den Karikaturisten oder Journalisten, den Hakenkreuz- und „Jude verrecke“-Schmierer, waren, wenn sie überhaupt öffentlich wurden und zur Anzeige kamen, meist formal-bürokratischer und repressiver, also auch strafrechtlicher Art. Kam es sogar zu Prozessen, war man in den Urteilen nicht zimperlich. Verharmlosung, Verleugnung und Verdrängung der antisemitischen Potentiale beförderten jedoch nicht die Auseinandersetzung und Veränderungen. Die Unterdrückung von Informationen mußte einfach zu einer falschen Realitätswahrnehmung und zu „falschem Bewußtsein“ führen.

Jochanaan Christoph Trilse-Finkelstein berichtet, wie seit dem 9. November 1978, dem 40. Jahrestag der Pogromnacht, bei seiner Mutter, bis zu ihrem Tode 1985, jedes Jahr in der Nacht zum 9. November die Scheiben ihrer Wohnung in Berlin-Lichtenberg eingeschlagen wurden. /19/

Peter Honigmann schildert, wie er 1979 von der Leitung der Akademie der Wissenschaften vor die Wahl gestellt wurde, seine Stelle an der Akademie zu behalten oder seinen geplanten Vortrag über „Einsteins jüdische Haltung“ vor der Berliner Gemeinde zu halten. /20/ Die
Erscheinungsformen von Antisemitismus waren vielfältig und die Beispiele ließen sich auch durch eine Reihe weiterer persönlicher Erfahrungen fortsetzen.

Die andere Seite: Der Staat finanzierte einen Teil der Gemeindeverwaltungen, da die Gemeinden aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage waren. (Ende 1989 gab es nur noch ca. 300 Gemeindemitglieder – und nach Schätzungen, ca. 3.000 Juden, die nicht Mitglied einer Gemeinde waren.)

Die DDR hatte einige Synagogen instand setzen und ein Drittel der 130 jüdischen Friedhöfe unter Denkmalschutz stellen lassen und als sich Mario Offenberg von der kleinen Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel im Jahr 1985 an Erich Honecker wandte und um Hilfe bat, da auf dem Gemeinde-Friedhof in Berlin-Weißensee von ca. 3.000 Grabsteinen nur noch 100 standen, der Rest umgeworfen und zerschlagen worden war, gab Honecker umgehend die Anweisung ans Staatssekretariat für Kirchenfragen und den Rat des Stadtbezirkes Weißensee, bis 1986 die Rekonstruktion und Aufräumarbeiten durchzuführen.

Noch 1994 wundert sich eine ehemalige Mitarbeiterin für Staatspolitik in Kirchenfragen und ehemaliges SED-Mitglied, warum 1988 plötzlich so viele FDJ’ler auf jüdische Friedhöfe geschickt wurden. Sie kann sich das nicht erklären und glaubt, daß es darauf wohl keine Antwort mehr geben wird. Sie schreibt, daß im staatlichen Sprachgebrauch das Wort „Jude“ vermieden wurde, statt dessen von „jüdischen Mitbürgern“ und „Bürgern jüdischen Glaubens“ die Rede war. Das ist richtig, falsch aber ihre Begründung, das Wort „Jude“ sei ein Schimpfwort und deshalb vermieden worden, um niemanden zu verletzen. Noch weiterer lesenswerter Unsinn findet sich in ihrem Aufsatz /21/.

Nicht jede Kritik an der Politik Israels muß Antisemitismus befördert haben. Allerdings: Um Antisemitismus zu verhindern, wäre eine umfassende und differenzierende Information und Diskussion über Judentum und Israel nötig gewesen. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Israel erschien immer im Negativ-Zusammenhang mit „Zionismus“, „Massenvertreibung der Araber und Palästinenser“, mit „Raub“, „der Annexion arabischer Gebiete“, „der israelischen Soldateska“, „israelischen Aggressoren“, „Israel, als gegen die Rechte des arabischen Volkes und dessen Kampfes für die Befreiung und Fortschritt gerichtete Speerspitze des Imperialismus“ usw. usf.

Genauso blieben auch Unterschiede und Differenzen zwischen den arabischen Staaten in den Medien der DDR fast vollständig ausgeblendet.

Beispiel einer Berichterstattung zur Erinnerung: Berliner Zeitung, Montag 02.05.1988: „Nach vorsichtigen Sondierungen zeichnete sich jetzt im Verhältnis zwischen Syrien und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO eine Wende zum Besseren ab. [Vorher hatten wir durch die Zeitung nicht erfahren, daß es schlecht gestanden hatte – T.L.] … Die PLO und Syrien sind unmittelbare Beteiligte des Nahost-Konflikts. Im Herangehen an seine Lösung besteht ein Teil ihrer Differenzen. Das sind komplizierte Probleme, und noch wurden nicht alle Reibungspunkte aus der Welt geschafft.“

Erst im Februar 1990 schrieb Oskar Fischer, Außenminister der DDR, in einem Brief an Ministerpräsident Hans Modrow: „… daß es auf dem Wege zur Herstellung diplomatischer Beziehungen für die DDR notwendig wird, eine neue Position zur Klärung jüdischer materieller Ansprüche zu erarbeiten“ und „Die
Position der DDR zum Zionismus ist neu zu bestimmen.“ /3/

1953 wurde die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aufgelöst. Aus den Verfolgten wurden einerseits die (aktiven) Antifaschistischen Widerstandskämpfer (mit neu gebildetem Komitee) und andererseits die (passiven Juden als) „Opfer des Faschismus“.

Die Inschrift auf dem Gedenkstein für die Widerstandsgruppe Herbert Baum verweist auf Symptomatisches: Während der Stein, der 1981 auf den Platz vor dem Alten Museum (neben dem Berliner Dom) gestellt wurde, den Hinweis enthält, das es sich um Kommunisten im Widerstand handelte, die hier 1942 einen Anschlag auf die Propaganda- und Hetzausstellung „Das Sowjetparadies“ durchgeführt hatten, und es keinen Hinweis darauf gibt, daß es sich bei der Gruppe auch um eine jüdische Widerstandsgruppe handelte, können die Antikommunisten in der derzeitigen Großen Koalition des Berliner Senats bei der gerade laufenden Umgestaltung des Platzes den Stein gerade deshalb nicht wegbaggern, weil die Mitglieder der Baum-Gruppe Juden waren. Juden hatten auch in der DDR lediglich als beklagenswerte Opfer des Faschismus zu erscheinen, ihr Anteil am Widerstand wurde selten erwähnt. (Übrigens auch eine Gemeinsamkeit beider deutscher Staaten.)

Antizionismus und Antisemitismus in der Linken ist ein Thema, welches eine eigenartige Erscheinungsform entwickelt hat. Es verschwindet für einige Zeit und kehrt dann mit einer Vehemenz und Ignoranz zurück, als hätte sein letztes Auftreten nicht eine sehr hart und emotional geführte politische Diskussion und Auseinandersetzung ausgelöst. Sie beginnt praktisch immer wieder am Ausgangspunkt der letzten Runde, also bei Null und ist deshalb so anstrengend. Tatsächlich erinnert auch dies an das Bild des Sysiphus.

So transportierte sowohl der Golfkrieg Anfang der 90er Jahre als auch die folgenden Debatten um die Positionen der Beteiligten und Unbeteiligten wieder einmal eruptionsartig antisemitische Einstellungen bei einem Teil der Friedensbewegung und der Linken an die Oberfläche. Vom ehemaligen Flottillenadmiral i.R. Elmar Schmähling, 1982/83 Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), als Berufsoffizier einer der Militärexperten der Friedensbewegung der 80er Jahre, 1998 kurzzeitig PDS-Direktkandidat im umkämpften Wahlbezirk Mitte/Prenzlauer Berg (s. telegraph 2/98), stammen aus dieser Zeit folgende Worte: „Dieser Krieg ist nicht unser Krieg … Für das Recht der USA, ihre ’neue Weltordnung‘ mit alttestamentlicherRücksichtslosigkeit durchzubomben, und die Freiheit der internationalen Rüstungsgeschäftemacher, sich mit Hilfe einer korrumpierten Politik vor, während und nach diesem Krieg eine goldene Nase zu verdienen, lassen sich diese Soldaten nicht verheizen.“ /22/ Der Satz provoziert antisemitische Assoziationen. Der deutsche Militär wendete sich hier nicht gegen deutsche Firmen, die deutsche Soldaten verheizen wollen.

Ich erinnere eine Diskussionsrunde mit Radikalen Linken, in der ein nichtzionistischer Jude aufgrund seiner Kritik am aufgetretenen Antisemitismus während des Golfkrieges im nachhinein als Mossad-Agent diffamiert wurde. Solche paranoiden Vorwürfe wurden ja auch bei den schon beschriebenen Ereignissen der 50er Jahre aufgeboten. Vor allem jedoch liegt beiden Haltungen, der stalinistischen wie der
„undogmatischen“, ein gemeinsamer Fehler zugrunde: die Stellung gegenüber Juden und der „jüdischen Frage“ wird von der Klassenfrage abhängig gemacht. Dies hat eine lange Tradition in der Geschichte der Arbeiterbewegung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann (s. z.B. /23/24/25/26/). Diesbezügliche Ähnlichkeiten zwischen der dogmatisch-stalinistischen und der undogmatisch-Neuen Linken sind deshalb nicht zufällig /z.B. 27/.

In beiden deutschen Staaten wurden die Juden und der Umgang mit ihnen politisch und moralisch instrumentalisiert. In der Bundesrepublik unter anderem, um im Westen als demokratischer Rechtsstaat anerkannt zu werden, in der DDR als Beweis des Antifaschismus. Schließlich war der Antifaschismus ein wesentlicher Teil der politischen Legitimation des sozialistischen deutschen Staates. In der DDR verneigte sich keine Staats- und Parteiführung vor SS-Gräbern, neofaschistische Parteien und Gruppierungen konnten nicht legal agieren. Die Reduzierung aber des Faschismus auf seine sozialökonomischen Grundlagen verhinderte die Auseinandersetzung mit der Frage, warum die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung (inklusive der Arbeiterklasse!) die Nazis willig unterstützt hatte bzw. selbst Nazi geworden war.

Der Antizionismus diente einerseits der Entlastung von historischer Verantwortung und andererseits konnten sich in ihm antisemitische Einstellungen und Verhalten, Vorurteile und Stereotypen ausleben und erhalten.

Quellen:

1 Wegweiser durch das jüdische Berlin. Berlin, 1987.

2 MOHRMANN, Walter: Antisemitismus. Berlin, 1972.

3 TIMM, Angelika: Hammer, Zirkel, Davidstern. Bonn, 1997.

4 GROEHLER, Olaf; KESSLER, Mario: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR. Hefte zur ddr-geschichte Nr. 26. Berlin 1995.

5 BURGAUER, Erica: Zwischen Erinnerung und Verdrängung – Juden in Deutschland nach 1945. Reinbek, 1993.

6 NEUES DEUTSCHLAND, 18.12.1952.

7 NEUES DEUTSCHLAND, 06.12.1952.

8 Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky. In: Dokumente der SED. Bd. IV. Berlin, 1954.

9 PROZESS gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slánský an der Spitze. Prag, 1953.

10 RAPOPORT, Louis: Hammer, Sichel, Davidstern. Berlin, 1992.

11 HODOS, Georg Hermann: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54. Berlin, 1990.

12 LONDON, Artur: Ich gestehe. Der Prozeß um Rudolf Slansky. Berlin, 1991. vgl. auch verschied. Lebensberichte u. Autobiographien z.B. BRANDT, Heinz: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Berlin, 1977. Oder: MAYER, HANS: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. II. Frankfurt a.M., 1984. Oder: ESCHWEGE, Helmut: Fremd unter meines
gleichen. Berlin, 1991.

13 DEUTSCHKRON, Inge: Israel und die Deutschen. Köln, 1970.

14 KAHN, Siegbert: Antisemitismus und Rassenhetze. Berlin, 1948.

15 GOLDMANN, Nahum: Das jüdische Paradox: Zionismus u. Judentum nach Hitler. Köln, 1978.

16 MASER, Peter: Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR bis in das Jahr 1988. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 1991.

17 STANDPUNKT. (Ev. Monatszeitschrift) 2 (1974) 2.

18 American Jewish Yearbook, 1984.

19 WROBLEWSKY, Vincent von (Hg.): Zwischen Thora und Trabant. Berlin, 1993.

20. ARNDT, Siegfried Theodor u.a.: Juden in der DDR. Sachsenheim, 1988.

21 LIEBSCH, Heike: Scheidewege um Nahost. In: Renger, Reinhard (Hg.): Die deut. „Linke“ u. der Staat Israel. Leipzig, 1994.

22 DER SPIEGEL. 7/1991.

23 SILBERNER, Edmund: Sozialisten zur Judenfrage. Berlin, 1962.

24 KNÜTTER, Hans-Helmuth: Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik. Düsseldorf ,1971

25 BRUMLIK, Micha u.a. (Hg.): Der Antisemitismus und die Linke. Frankfurt a.M., 1991.

26 KESSLER, Mario: Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus. Mainz, 1993.

27 AUTONOME NAHOSTGRUPPE HAMBURG: Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld. Bremen, 1989.

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Faschistische Vergangenheit in der DDR

VON DIRK TESCHNER, ERSCHIENEN IM TELEGRAPH – OSTDEUTSCHE ZEITUNG NR. 3/4 1998

In der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gab es nur eine einseitige Faschismusrezeption, die im Kern als Ursachen von Hitler, Holocaust und 2. Weltkrieg „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischsten, am meisten imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals“ ausmachte. Aus diesem Grund kann es nicht verwundern, daß es bis heute nie zu einer offenen Diskussion darüber kam, was in einem deutschen sozialistischem Staat nach dem deutschen faschistischen Staat, nach dem Holocaust, mit den in Deutschland lebenden deutschen Menschen passieren sollte. Hinzu kam, daß der sozialistische Staat auf deutschem Boden nicht durch eine Revolution, sondern vielmehr während der Besetzung der Roten Armee der Sowjetunion aufgebaut wurde.Es wäre unumgänglich gewesen, eine offene, demokratische Aufarbeitung und Diskussion zu führen: über die Machtergreifung Hitlers und die Unterstützung durch den Großteil des deutschen Volkes und den Wiederaufbau nach der Befreiung Deuschlands. Aber dem stand Stalin im Weg und das Mißtrauen der Überlebenden, Antifaschisten und Juden, gegenüber einem Großteil des deutschen Volkes. Es bleibt der Eindruck einer schizophrenen SED-Führung, die einerseits dem Volk mißtraute, gleichzeitig aber auch Alt-Nazis in führende Positionen hievte – und deswegen nie eine wirklich die Gesellschaft erfassende antifaschistische Umwälzung in die Wege bringen konnte.

Als im April 1945 der Endkampf um Berlin einsetzte, übten einzelne Beauftragte des ZK der KPD und die Frontbeauftragten des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ Kontrollfunktionen aus. Gleichzeitig wurden in Moskau die Voraussetzungen für die Planung und Vorbereitung des Einsatzes deutscher kommunistischer Funktionäre und anderer bewährter Antifaschisten aus den Reihen der Kriegsgefangene geschaffen. Sowohl in der Schulungsstätte der KPD in Kusnarenkovo als auch in der zentralen Antifa-Schule in Krasnogorsk wurden Kader vorbereitet, so daß bei Kriegsende auf eine Liste von Kommunisten und Antifaschisten zurückgegriffen werden konnte, die auf die Arbeit in Deutschland vorbereitet waren.

Eine führende Gruppe deutscher Kommunisten wurde gebildet, die ihre Aufgaben von der auf Berlin vorstoßende 1. Belorussischen Front Marschall Shukovs aus wahrnehmen sollte. Dieser Führungsgruppe wurden je eine Arbeitsgruppe von drei Kommunisten für die Gebiete Mecklenburg-Pommern/ Gustav Sobottka, Berlin-Brandenburg/ Walter Ulbricht und Sachsen-Halle-Merseburg/ Anton Ackermann nachgeordnet, die entsprechend den Operationsbereichen der sowjetischen Heeresgruppen den jeweiligen Frontstäben der 1. Belorussischen, der 2. Belorussischen und der 1. Ukrainischen Front zugeteilt werden sollten.

Vordringliche Aufgabe dieser Kader war der schnellen Aufbau von Stadt- und Gemeindeverwaltungen. „Ein Teil von ihnen übernimmt Funktionen in der Stadt für längere Zeit, während andere beauftragt werden, in den kleinen Städten und Gemeinden des betreffenden Kreises bei der Schaffung der Gemeindeverwaltungen zu helfen bzw. zu kontrollieren, ob die geschaffenen Gemeindeverwaltungen aus zuverlässigen Antifaschisten bestehen und wirklich im Sinne der Richtlinien arbeiten“, so hieß es in den Richtlinien über den Aufgabenbereich der Gruppenmitglieder. Der Aufbau erster neuer Verwaltungen und die Konsolidierung der KPD bedeutete gleichzeitig das Ende der Antifa-Ausschüsse. Die Auflösung der antifaschistischen Komitees war auch eine Eliminierung erster Ansätze einer selbständigen antifaschistischen Bewegung innerhalb der deutschen Bevölkerung.

Zu der Not und dem Elend des deutschen Zusammenbruchs kamen für die deutschen Kommunisten spezifische Schwierigkeiten dazu: So war es für sie außerordentlich schwierig, Kontakt zur Bevölkerung zu bekommen oder gar ein Vertrauensverhältnis herzustellen.

Am 30. Oktober 1945 verfügte die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) mit dem Befehl Nr. 124 umfangreiche Beschlagnahmen diverser Eigentumskategorien. Der Beschlagnahme verfielen deutsches Staatseigentum, der Besitz faschistischer und militärischer Organisationen, das Eigentum der Verbündeten des „Großdeutschen Reiches“, sowie der Besitz von Amtsleitern der NSDAP, deren führende Mitglieder und einflußreichen Anhängern. Die neuen deut
schen Verwaltungsorgane mußten den sowjetischen Militärkommandanten bis zum 20. November 1945 entsprechende Listen einreichen.

Die Frage welche Betriebe zu enteignen waren, sorgte gut zwei Jahre für Unruhe. Die betroffenen Belegschaften schalteten sich in die Auseinandersetzungen ein. In Sachsen fanden 1947 Streiks und Arbeitsniederlegungen statt, weil die Arbeiter befürchteten, daß eine Anzahl von Betrieben früherer Nazis diesen wieder zurückgegeben werden soll.

Im Jahre 1948 verkündete die SMAD mit dem Befehl Nr. 64 das Ende der Enteignung und mit dem Befehl Nr. 35 das Ende der Entnazifizierung. Nach Einschätzung der Verantwortlichen war der „volkseigene Sektor“ vorerst groß genug, und andauernde Auseinandersetzungen in dieser Frage würden nur Unruhe ins Bürgertum tragen. Im Zeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges war das bündnispolitisch unerwünscht.

Gleichzeitig wurden ab Kriegsende Speziallager der SMAD geschaffen, wo vor allem Kriegsgefangene, später auch Naziverbrecher interniert waren. Nach Schätzungen sollen 45 000 Nazis und Kriegsverbrecher von sowjetischen Militärgerichten auf deutschen Boden verurteilt worden sein. Von SBZ/DDR Gerichten wurden zwischen 1945 und 1955 12761 NS- und Kriegsverbrecher verurteilt, darunter 106 Personen zum Tode. In den drei westlichen Besatzungszonen wurden, bei ungleich höherer Bevölkerungszahl und ungleich höherer Zahl alter Nazis, nur 6450 verurteilt, 1949 saßen nur noch 300 Kriegsverbrecher im Gefängnis.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurden die von allen Alliierten gemeinsam beschlossene personelle und strukturelle Entnazifizierung sehr viel radikaler durchgeführt. Dies betraf drei Bereiche: 1. Bodenreform (Stichwort „Junkerland in Bauernhand“) 2. Enteignung und Verstaatlichung der großen Industriebetriebe (Stichwort „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“) 3. Personelle Säuberung in der staatlichen und kommunalen Verwaltung.

Von 1945 bis 1948 waren 520.000 Mitglieder der NSDAP aus allen Bereichen der Verwaltung und der Industrie der Sowjetischen Besatzungszone entfernt worden. Von den rund 40.000 Lehrern allgemeiner Schulen (rund 70% hatten zum Kriegsende der NSDAP angehört) wurden 20.000 entlassen. In der Justiz waren rund 16.000 beschäftigt, davon ca. 2.500 Richter und Staatsanwälte (zu etwa 80% Mitglieder der NSDAP). Etwa 2.000 (80%) der Richter und Staatsanwälte wurden entlassen. Bei den Rechtsanwälten wurde nicht in gleicher Weise verfahren, noch Ende 1949 befanden sich unter den 999 zugelassenen Rechtsanwälten 224 (22%) ehemalige Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen.

Bei, für den Wiederaufbau benötigtem Fachpersonal, Spezialisten, Technikern, Ärzten, wurde im Konflikt zwischen politischem Entnazifizierungsprinzip und wirtschaftlichem Interesse die Fachkompetenz zuweilen höher bewertet, als die politische Belastung, Beispiel.: Land Sachsen-Anhalt, Stand 31. Januar 1947, NSDAP-Anteil in %: Volksbildung: 0,2; Polizei: 0,8; Gesundheitswesen: 25,0; Industrie: 10,0; Postwesen: 17,1; Justiz/Gerichte/Staatsanwaltschaft: 6,0 usw.

Einfache NSDAP-Mitglieder und Mitläufer erhielten im August 1947 ihr aktives und passives Wahlrecht wieder, nachdem im September 1946 die ersten Gemeindewahlen, im Oktober 1946 die ersten Wahlen zu den Land- und Kreistagen in der Sowjetischen Besatzungszone stattgefunden hatten. „Es lebe die SED, der große Freund der kleinen Nazis“ formulierte damals ein ehemaliges NSDAP-Mitglied anläßlich einer von der SED einberufenen Versammlung . 1953 zählte die SED etwa 150.000 Mitglieder, die ehemalige Wehrmachtsangehörige im Offiziers- bzw. Unteroffiziersrang waren oder der NSDAP bzw. einer ihrer Gliederungen angehört hatten, damaliger Gesamtmitgliederstand: rund 1,2 Millionen. Im Mai 1948 wurde für einen Teil ehemaliger Nazis die NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) als weitere Blockpartei gegründet, die bis zum Ende der DDR in der Volkskammer mitregierte.

Es ist einzigartig, wie schnell nach Gefangennahme von Nazi-Offizieren und Soldaten „Lehren“ aus der Vergangenheit gezogen wurden und aus Feinden Verbündete wurden. Ein kurzer Aufenthalt in den Antifa-Schulen oder Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion reichte aus.

Im Jahre 1965 waren so noch 53 Alt-Nazis Abgeordnete der Volkskammer, 12 Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, 2 Mitglieder des Staatsrates der DDR und 5 besaßen Landesministerposten. Etliche Alt-Nazis halfen beim Aufbau der „Volkspolizei“ und der NVA. In den Medien besaßen sie großen Einfluß. Sie bekleideten die Stellungen von Chefredakteuren und bildeten z.B. in den Redaktionen des „Neuen Deutschland“ und der „Deutschen Außenpolitik“ eigene Arbeitsgruppen. In all diesen „roten“ Institutionen ließen sich Nazis finden, dort gab es ehemalige SS-Mitglieder, SA-Führer, Vertrauensleute der Gestapo, Angehörige von Propagandakompanien, Mitarbeiter des NS-Rundfunks, des „Völkischen Beobachters“, des „Schwarzen Korps“, Beamte des Propagandaministeriums, Mitglieder des „SS-Rasse und Siedlungs-Hauptamtes“, Angehörige der „Legion Condor“.

In all den Jahren des 40jährigen Bestehens der DDR wurden die zuständigen DDR-Einrichtungen durch verschiedene Archive und Organisationen – vom Dokumentationszentrum des Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien bis zu dem Westberliner Verein
„Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“ – auf die Arbeit von Alt-Nazis in führenden Gremien der DDR hingewiesen. Es wurden regelmäßig Listen von belasteten Personen überreicht. Die Reaktion war immer gleich Null. Während Hinweise auf Nazis im eigenen Apparat ignoriert wurden, wurde zur Verfolgung und Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen in der BRD eine Extraabteilung geschaffen. Deren Aufgabengebiete wurden mit dem Befehl Nr. 39/67 vom 23.12.1967 des Ministeriums der Staatssicherheit festgelegt: „…1. Mit Wirkung vom 1.2. 1968 wird in der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit die Abteilung 11 gebildet. Sie ist verantwortlich für die einheitliche, systematische Erfassung, Archivierung, politisch-operative Auswertung und Nutzbarmachung aller im Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit vorhandenen und noch zu beschaffenden Materialien des Faschismus aus der Zeit bis 1945, um die in Westdeutschland und auf dem Territorium Westberlin im Staats-, Wirtschafts- und Militärapparat sowie in Parteien und Organisationen tätigen und durch ihre faschistische Vergangenheit belasteten Personen noch zielgerichteter zu entlarven.“

Bis Mitte/Ende der sechziger Jahre sollen in der BRD an Alt-Nazis tätig gewesen sein: 21 Minister und Staatssekretäre, 100 Generale und Admirale der Bundeswehr, 828 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter, 245 leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Botschaften und Konsulate, 297 hohe Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes.

Unter den Alt-Nazis, die in der DDR blieben und beträchtlichen Anteil am Aufbau besaßen und führende Positionen bekleideten gab es immer zwei Seiten. Eine ganze Reihe bereuten schon während des 2. Weltkrieges ihre Teilnahme am faschistischen Verbrechen und zeigten das an aktiven Widerstandsaktionen oder in der Gefangenschaft. Dem anderen Teil war die Ideologie scheinbar zweitrangig. Er arrangierte sich ziemlich schnell mit der neuen politischen Situation nach 1945 und kam sehr schnell wieder an Posten.

Die SchwierigkeitdesUmgangs mit ehemaligen Wehrmachtsangehöriger, die sich nach 1945 in der SBZ/DDR engagierten, zeigt das Beispiel Gustav Just, der in den 50er Jahren stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Sonntag“ war und zur oppositionellen Gruppe innerhalb der SED um Janka und Harich gehörte.

Gustav Just nahm, als Leutnant der Wehrmacht, der Panzerjäger-Abteilung 156, 1.Kompanie, 2. Zug, im Rahmen des Einsatz in der Sowjetunion, in Masikowka in der Nähe von Cholm, am 15. Juli 1941 an der Erschießung von 6 Juden teil. Er erhielt im Laufe des Krieges f. militärische Auszeichnungen: „Eisernes Kreuz I: Klasse“, „Infantrie-Sturmabzeichen“, „Ostmedaille“, „Verwundetenabzeichen in Schwarz“.

Nach 1945 trat Just in die KPD/SED ein. Auf dem Lebenslauffragebogen verschwieg er fast alle Angaben, die seine Tätigkeiten bei der Wehrmacht betrafen. 1957 wurde er wegen oppositioneller Tätigkeit verhaftet. Bei seiner Festnahme durch die Staatssicherheit wurden
seine Kriegstagebücher mit ausführlichen Schilderungen seiner Kriegserlebnisse gefunden. Auf die Frage, warum er auf seinem Fragebogen die Angaben über seine Kriegsteilnahme nicht eintrug, äußerte Just: „Durch die unwahren Angaben über meine Haltung in der Zeit des Faschismus wollte ich ein besseres Bild über mich geben, als es den Tatsachen entsprach. Ich hatte nach meiner Umsiedlung in die damalige Sowjetische Besatzungszone den festen Willen, hier tatkräftig mitzuarbeiten und war mir nicht bewußt, daß der erste Schritt dazu die offene, schonungslose Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit ist. Im Gegenteil, ich wollte die unangenehmen Punkte dieser Vergangenheit zudecken, um später einmal, wenn man mich aus meiner Arbeit kennen würde, darüber zu sprechen. Mit dem Verschweigen obiger Angaben verfolgte ich außerdem das Ziel, Lehrer zu werden.“ Just wurde wegen „staatsfeindlichen, konterrevolutionären Aktivitäten“ 1957 verurteilt. Die Teilnahme an der Erschießung 1941 war für das Gericht unerheblich und wurde nicht geahndet.

Nach dem Herbst 1989 wurde Just als Alt-Oppositioneller gefeiert. Er trat in die SPD ein und wurde Alterspräsident des Landtages Brandenburg. 1990/91 beschäftigten sich verschiedenen Gerichte mit Gustav Just wegen Beihilfe zum Mord. Wegen Verfolgungsverjährung wurde das Verfahren eingestellt.

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AUSLÄNDERINNEN UND AUSLÄNDER UND DIE STAATSPOLITIK DER DDR

Die DDR war nie ein offenes Aufnahmeland gewesen. Im Gegensatz zum außenpolitischen Internationalismus wurden Ausländer größtenteils als Arbeitskräfte ins Land geholt. Abgeschirmt lebten sie in Wohnheimen, gezwungen zur Anpassung an die DDR-Gesellschaft.

Aus der Zeitschrift telegraph 3/4 1998
Schwerpunkt: , Brauner Osten?

von Dirk Teschner

Den Anfang mit dem Einsatz ausländischer Arbeitskräfte innerhalb der RGW-Staaten machten die CSSR und die Sowjetunion im Jahre 1957. Damals erklärte sich die Sowjetunion bereit, zur Urbarmachung von Gebieten in Kasachstan 15 000 Arbeiter aus Bulgarien zu übernehmen, die damals keine Arbeit in ihrem Land finden konnten.

Gleichzeitig wurden in den Medien die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter in den westeuropäischen Ländern verurteilt. Vor allem, daß ihnen keine volle Gleichberechtigung mit den deutschen Arbeitern gewährt wurde, daß sie nur die Arbeitserlaubnis für einen bestimmten Betrieb besaßen, sie nur niedrige Arbeit durchführten und in Gemeinschaftsunterkünften leben mußten. Die Medien der DDR reagierten auf solche Entwicklungen ungewöhnlich hart. Im Berliner Rundfunk ertönte es damals: „Die Gastarbeiter müssen in einem Land Verdienst suchen, um sich ihre und der ihren Existenz zu sichern. Hier prägt sich ein nationalsozialistischer Zug aus, den wir aus der Vergangenheit nur zu gut kennen. Unterdrückung, Ausbeutung anderer Völker, Rassenhaß und Herrenmenschentum.

Letztendlich ist aber auch in der DDR genau das eingetreten, wovor DDR-Institutionen in den 50er Jahren gewarnt haben, als sie die damalige Nichtaufnahme von ausländischen Arbeitern begründeten.

Denn zur gleichen Zeit verließen immer mehr Menschen die DDR Richtung Westen. Im Jahre 1960 waren es ca. 200 000 DDR-Bürger. Nach der Grenzsperrung am 13. August lag bis zum Jahre 1988 die jährliche Rate der Flucht- und Übersiedlungsbewegung bei ca. 20 000 Personen. 3,5 Millionen Menschen verließen insgesamt die DDR zwischen 1949 und 1989. Die Flüchtlingsbewegung 1960/61, wie auch die angestrebte Steigerung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, von Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED im Jahre 1963 verkündet, und die etappenweise Einführung des „Neuen ökonomischen Systems“ ab 1964, leitete in der „Gastarbeiterfrage“ einen „Umdenkprozeß“ in den Partei- und Regierungsinstanzen ein.

Im Jahre 1965 wurden erstmals 700 polnische Arbeiter und Techniker am Bau der Ölleitung zwischen dem Rostocker Hafen und dem Erdölverarbeitungswerk in Schwedt und Leuna II eingesetzt. Danach wurden polnische Arbeiter für Arbeiten bei der Reichsbahn und dem Bau der Hochöfen in Eisenhüttenstadt geholt. In der Mehrzahl der Fälle erfolgte dies im grenznahen Gebiet, so daß keine Unterbringung notwendig wurde. Zwischen der DDR und der VR Ungarn wurde im Jahre 1967 ein Abkommen über die Tätigkeit ungarischer Arbeiter in Betrieben der DDR unterzeichnet. Das Abkommen regelte, daß während fünf Jahren insgesamt 16 000 ungarische Arbeiter zum Arbeitseinsatz in die DDR geschickt wurden.

Im Jahre 1977 waren insgesamt 50 000 Arbeiter aus dem Ausland in der DDR. Diese Zahl erhöhte sich um weitere 50 000 im folgendem Jahr, darunter waren auch 18 000 Arbeiter aus Algerien, die aber bald wieder von ihrer Regierung, aufgrund sozialer Spannungen und Ausschreitungen, denen sie ausgesetzt waren, nach Algerien zurück geholt wurden. Ende der 70er Jahre wurden dann Regierungsabkommen über den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte mit Vietnam, Mocambique, Angola, Kuba und China geschlossen. Weiterhin lebten in dieser Zeit eine nicht näher bekannte Anzahl von chilenischen politischen Flüchtlingen in der DDR, die eine privilegierte Sonderrolle einnahmen. Sie hatten Privatwohnungen, konnten in ihren Berufen weiterarbeiten und verfügten über eigene Treffpunkte, eigene Clubs. In den 80er Jahren lebten auch einige hundert Menschen aus Libyen, Nordkorea, Kamerun und dem Irak in der DDR.

Die weitaus größte ausländische Gruppe auf dem Territorium der DDR bildeten aber die Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte mit 380 000 Soldaten und Offizieren und ihren 200 000 Familienangehörigen. Im letztem Jahr der DDR lebten offiziellen nach Staatsangehörigkeit aufgeschlüsselt: aus Vietnam 60 100 Personen, aus Polen 51 700 Personen, aus Mocambique 15 500 Personen, aus Ungarn 13 400 Personen, aus Kuba 8 000 Personen, aus Angola 1 400 Personen.

Die bilateralen Abkommen zwischen der DDR und den Vertragsstaaten enthielten eine ganze Reihe von repressiven Vereinbarungen, die die Voraussetzung für die Einreise der Kontraktarbeiter darstellten, wie z.B:Abführung von 12% des Lohnes in die Heimatländer, strenge Kontrollen durch DDR-Behörden und Botschaften, keine Familienzusammenführung, Abschiebung im Schwangerschaftsfall oder Zwangsabtreibung, Abschiebung bei politischer Betätigung, keine Mitgliedschaft in Vereinen und in Parteien der DDR, Zwangsmitgliedschaft beim FDGB und Bezahlung von Mitgliedsbeiträgen. Genau festgelegt waren auch die Wohnbedingungen. Die gemeinsame Unterbringung ausländischer Arbeiter in Wohnheimen war obligatorisch. Dabei sollte die Monatsmiete pro Arbeiter 30 Mark nicht überschreiten und die vereinbarte Wohnfläche mußte wenigsten 5 qm pro Person betragen. In einem Raum durften 4 Personen leben, denen eine Kochgelegenheit, sowie Besteck und Kochgeschirr zur Verfügung gestellt wurde. Frauen und Männer lebten in getrennten Unterkünften.

Selbst diese unzumutbaren Bestimmungen wurden nicht immer eingehalten. Wohnheime wurden überbelegt und gelegentlich mußten sich bis 40 Personen 5 Kochstellen teilen. In den Unterkünften gab es für Besucher Anmeldepflicht und in einigen Fällen auch Ausweispflicht. Es wurden nächtliche Kontrollen durchgeführt. Die Heimleitung besaß Schlüssel zu allen Räumen, und konnte diese jederzeit durchsuchen.

In den 80er Jahren erhielten ausländische Kotraktarbeiter, im Gegensatz zu den Jahren zuvor, seltener eine Berufsausbildung. Auf ihre soziale und familiäre Situation wurde keine Rücksicht genommen, sie hatten praktisch kein Recht, in der DDR eine Familie zu gründen. Sie waren auf den Gebrauchswert als Arbeitskraft reduziert worden.

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Neubeginn – Arbeitskreis für deutsch-alternative Politik, oder ein weiterer Schritt zur neuen rechten Sammlungsbewegung

– aus Zeitschrift telegraph, Nr. 16/90, vom 23. November 1990 –

Wurde bereits im telegraph 14 versucht, den Filz der neuen faschistischen Organisationen, mit dem Schwerpunkt internationale Kontakte offenzulegen und in diesem Zusammenhang die Verstrickung der Nationalen Alternative näher zu beleuchten, so soll es hier um die Neuorganisierung der neofaschistischen Gruppen in Deutschland, deren Zusammmenarbeit mit neuen und alten Rechten, mit rechtsextremen Parteien und dem rechten Flügel von CDU/CSU gehen.

Dazu muss zurückgegangen werden zum 5.Mai 1989, zur Geburtsstunde der „Deutschen Alternative(DA)“. An diesem Tag wurde die DA, als Idee der FAP/NL/VAPO-Aktivisten Kühnen, Worch, Küssel geschaffen.

Im Dezember 1989 wurden bereits die ersten Ortsgruppen in Cottbus und Dresden gebildet. Im Januar 1990 veröffentlichte Kühnen in der Nazischrift „Die Neue Front“ Nr. 101 eine detaillierte Aufbauanweisung für die damalige DDR- den „Arbeitsplan Ost“. Die sich anbahnenden Probleme, bezüglich der Registrierung (einen DA gab es zu diesem Zeitpunkt bereits, nämlich de Demokratischen Aufbruch), wurden dort bereits berücksichtigt. Und zwar wi geplant, dass im Fall der Nichtregistrierung eine Deckorganisation geschaffen werden soll, Zitat:“…Die dann entstehende Partei, wird die DA sein, aber sie wird eben unter einem anderen Namen auftreten…“.

Auf Grund des Vorhandenseins des Demokratischen Aufbruchs, war die Anmeldung in Cottbus und Dresden, als auch in Rostock und Berlin nicht möglich. Letztgenannte Ortsgruppen bildeten sich im Januar 1990.Dieses, zu diesem Zeitpunkt nicht zu lösende Problem, bildete die Grundlage für das Erscheinen der „Nationalen Alternative (NA)“.

Am 1.2.1990 wurde die NA in Berlin gegründet und kurz danach unter der Nummer 39/90 registriert.

Am 16. März 1990 gründete sich in Westberlin die „Deutsche Alternative Mitteldeutschland (DDR)“. Auf Grund des Umstands, dass der Demokratische Aufbruch in die CDU überging, konnte die DA/Mitteldeutschland im September 1990 registriert werden.

Damit war die Rolle und Funktion der NA hinfällig. Die Folge ist, dass sie sich derzeit im Auflösungsprozess befindet. (Neue politische Zentrale ist, wie auch ursprünglich geplant, Cottbus.) Damit verliert auch das Haus Weitlingstr 122 an Bedeutung. Die politischen Führer haben bereits das Haus verlassen. Sämtliches Parteimaterial ist schon seit Monaten ausgelagert Die Bewohnerzahl geht zurück. Zurzeit sollen nur noch drei Wohnungen, hauptsächlich von Jungfaschos bewohnt sein. Der Rest dient nur noch als sogenannte „Kameradschaftswohnungen (Unterschlupf für auswertige Nazis bei Aktionen, Treffen, etc.).

Unabhängig von diesen Tatsachen gibt es noch andere Gründe, für den Bedeutungsverlust der Weitlingstr. 122. Zum einen ist das Haus zu bekannt und auf Grund intensiver Aktionen von Antifaschistinnen und autonomen Linken stark unter Druck. Zum anderen gab und gibt es aufreibende Konflikte innerhalb der NA und mit den Berliner Fussballhooligans. Der Konflikt mit den Hools macht sich an zwei Punkten fest. Zum einen, dass Hooligan-Führer wie zum Beispiel ein gewisser Voigt, der noch 1987 mit den jetzigen NA-Führern Hasselbach, Lutz und Richert in der „Bewegung 30Januar“ zusammen war, nun nicht an der Macht beteiligt wurde, weil er zu gewalttätige Auftritte hatte (er ist für seine Brutalität berüchtigt), und zum anderen weil die Hools kein Interesse an festen hierarchischen Machtstrukturen haben und ihre Kontakte mehr in Richtung Nationalistische Front (nationalistische Bewegung von unten, in ihrer Propagandasprache), gehen. Daraus erklärt sich, dass es immer wieder Angriffe von Hools auf NA-ler gibt und seitens der Hooligans des Öfteren Angriffe auf die Weitlingstrasse 122 angekündigt wurden.

Der zweite Konflikt ist mehr ein NAinterner, ideologischer. Nämlich der Streit zwischen Nationalrevolutionären und Nationalsozialisten. Dieser Streit ist gerade in Deutschland historisch. Führte er doch 1934 zum sogenannten Röhm-Putsch. Vertreten die Ostler (Hasselbach) mehr den nationalrevolutionären Ansatz der damaligen SA-Führer Röhm und Strasser, so sind die West-„Kameraden“ (Küssel/Reinthaler) getreu ihrem Führer Michael Kühnen, voll auf der nationalsozialistischen Linie von Hitler und Göhring.

Ein ähnlicher Konflikt existiert schon seit Jahren innerhalb der Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP). Zwischen dem Flügel Mosler/Busse (Nationalrev.) und dem Hügel Kühnen/Worch (Nationalsoz.) In diesem Zusammenhang kann auch der Fakt stehen, dass der zweite Überfall auf die Wohnung von Worch in Hamburg (der erste wurde von Antifas durchgeführt) von Leuten des FAP-Mosler/Busse-Flügels ausgeführt wurde, da Worch in einem internen Rundbrief erklärte, dass er im Besitz von Materialien sei, die bei Veröffentlichung der FAP ein Ende setzen würden und dazu aufrief, die FAP zu verlassen und in die DA einzutreten.

Ein weiterer Punkt für den Streit in der NA ist, dass viele im Haus in der Weitlingstrasse Unmut über den Führungsstil und den Drill der „Westler“ zeigen und daher langsam wieder abdriften (Mit den deutschen Tugenden scheint es bei den „Kameraden der Weitlingstrasse auch nicht weit her zu sein).

Doch kehren wir zurück zur NA/DA und der weiteren Vernetzung der Rechten Kräfte. Eine andere Strukturbildung vollzog sich bereits am 18.3.1990. In Berlin schlössen sich an diesem Tag die FAP/Berlin, Wotans Volk und die NA zum „Berliner Block zusammen. Damit ist eine erneute Vernetzung perfekt. Hasselbach als neuer Führer der NA, ist gleichzeitig stellvertretender Führer der DA. Oliver Schweigert ist im Berliner Block Vertreter der DA, gleichzeitig hat er eine führende Position in der FAP/Berlin inne. Die Logistik des Berliner Blocks übernahm Wotans Volk, dessen Mitglied Arnulf Priem ebenfalls in der NA ist. die VAPO-Leute Küssel/Reinthaler sind politische Instrukteure der NA, und stehen wiederum in ständigen Kontakt zu Kühnen/FAP.

Die gesamte Vernetzung aller faschistischen Gruppen, rechten Bewegungen, Personen, bis hin zum rechten Rand der CDU/CSU, läuft über ein Gebilde, dass sich „Neubeginn- Arbeitskreis für deutsch-alternative Politik“ nennt Neubeginn ist ein dezidiertes Vernetzungssystem, das durch fünf Hauptstränge läuft, zwischen denen dann verschiedene Querverbindungen laufen.

Die Hauptstränge sind:
1. Der Berliner Block, plus der DA/Mitteldeutschland;
2. neofaschistische Organisationen wie NL, FAP, NSDAP/AO;
3. die Neuen Rechten, die da sind Publizisten, Wissenschaftler;
4. Organisationen rechts der Unionsparteien, die da sind Reps, NPD, ÖVP, DVU- Liste D;
5. der Alten Rechten, ehern Nazis, Überbleibsel rechter Org. der 50/60-iger Jahre (soz. Reichspartei). Die drei letztgenannten Stränge halten dann die Kontakte zur CDU/CSU.

Um das etwas näher zu beleuchten, einige Beispiele:
1. Neue Rechte – CDU/CSU. Kontakte laufen z.B. über Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing, Herausgeber der Zeitschrift „Criticen“, veröffentlicht im CSU-Blatt Bayernkurier, dem rechtsgerichteten Deutschlandmagazin und der neofaschistischen Nation Europa und Armin Mohler, 1942 nach Deutschland gekommen um in die SS einzutreten, Autor in „Die Zeit“, „Christ und Welt“ (1949-53), „Welt“, „Welt m Sonntag“, „Bayernkurier“, nach 1965 in der faschistischen Nation Europa, der italienisch/faschistischen „La Destra“ nach 1972 und der französische/faschistischen „Novelle Ecole“. Ein Bindeglied zwischen CDU/CSU und Neue Rechte ist der Neue Deutsche Nationalverein.

2. Organisationen rechts der Unionsparteien – CDU/CSU
Direkte Kontakte zwischen Repvs/DVU und CDU/CSU laufen z.B. über Heinrich Lummer. Indirekte Kontakte über die Alte Rechte zu den Repvs laufen z.B. über: Prof. Emil Schley, 1967 Beitritt zur CDU, ehem. Abgeordneter des Landtages Hessen, trat unter anderem am 2.6.1977 als Redner auf einer Veranstaltung des Stahlhelms auf. Heute Mitglied der Reps

3. Alte Rechte – CDU/CSU
Persönliche Kontakte liefen und laufen z.B. über H. Lübke, Filbinger. Manfred Wörner CDU, Generalsekretär der NATO, ehem. Mitglied im Bundestag, ehem. BRD- Verteidigungsminister, 1975 Redner auf einem HIAG-Treffen, unterstützte 1988 brieflich die Teilnahme des ex. Nazi-Offiziers Rudel an einem Treffen eines Bundesluftwaffengeschwaders. Elmar Pirot, Stadtrat der CDU beim Magistrat von Berlin/Ost sagte 1977 über den Chile-Putsch: Die chilenischen Putschisten haben, „…in einer feige gewordenen westlichen Welt, eine drohende kommunistische Diktatur verhindert.“

Querverbindungen laufen auch zwischen neuen und alten Rechten. Bindeglied ist die Unterschriftensammlung:“Stop des Bundestags-Neubaus“(Quel-le für die Kontakte zur CDU/CSU: Wer mit Wem, Bundbuchverlag GmbH, 1.Auflage 1981)

Weitere Kontakte laufen z.B. zwischen:
Junge Union – Junge Nationaldemokraten,
Junge Union Berlin – Nationale Alternative,
Junge Union – Deutsche Alternative.

Eine logische Querverbindung besteht zwischen faschistischen Parteien der alten BRD und der Mitteldeutschen DA sowie der NA. Die gemeinsame Geschäftsstelle von „Neubeginn“ befindet sich in München. „Neubeginn“ bezeichnet sich selbst als Wahlbündnis. Da ein derartiger Name auf keiner Wahlliste erschienen ist, ist eher wahrscheinlich, dass über „Neubeginn“ Wahlabsprachen und Strategien geklärt werden, da stets Einzelorganisationen von „Neubeginn“ zur Wahl antreten und keinerlei Dopplung erfolgt. So tritt die DA in Nordrhein-Westfalen an, aber nicht in Sachsen, obwohl sie es könnte. Auch die Repvs treten nicht in Sachsen an. Dafür aber die NPD. So trat in Frankfurt/Main die NPD an. Dafür nicht die Reps obwohl auch sie dazu in der Lage wähnen. So unterstützte die DVU das Wahldebüt der Reps finanziell und verzichtete selbst auf eine Wahlbeteiligung. Nur einige Beispiele die dieses koordinierte Vorgehen beweisen.

All diese Fakten belegen, dass es in der gesamten BRD, einschließlich der ehem. DDR eine fast einheitlich handelnde Rechte gibt, die bestrebt ist, sich immer perfekter zu organisieren und dabei stets bestrebt ist, über ein Organisationswirrwar ihre Aktivitäten zu verschleiern. Dem kann nur eine starke antifaschistische Selbstorganisierung entgegenstehen und eine Mobilisierung und Sensibilisierung der Menschen in diesem Lande. Verbote bringen hierbei überhaupt nichts. Nur das Anpacken der Wurzeln und die Beseitigung der politischen und sozialen Ursachen nimmt Faschisten und Ultra-Rechten die Grundlage für ihre Existenz und ihre Propaganda.

d.w.

Antifaschistischer Sommerkalender

– aus Zeitschrift telegraph, Nr. 13/90, vom 8. August 1990 –

Das sogenannte „Sommerloch“ fällt in diesem Jahr für die Antifa-Bewegung aus.

Am 9.8. beginnt die Fußball-Bundesliga in Berlin mit dem Spiel Herta BSC 19
gegen FC St. Pauli. Die Besonderheit dabei ist, dass Herta einen mehrere hundert Personen starken Fascho-Anhang hat, St. Paulis Fans dagegen mehrheitlich links und antifaschistisch sind. St. Pauli ruft alle Linken und Antifas auf, gemeinsam mit ihnen einen starken antifaschistischen Block im Olympia-Stadion zu bilden. Nähere Infos sind im Westberliner besetzten Haus Marchstr. zu erhalten.

Weiter geht es dann am 12.8. An diesem Tag soll ein weiteres Fußballspiel zwischen Herta BSC und dem 1.FC Union, diesmal im der Ostberliner Alten Försterei, stattfinden. Es ist dabei wieder mit Großen Fascho-Zusammenrottungen sowie Ausschreitungen zu rechnen. Hauptgefährdet sind besetzte Häuser, linke Treffs und Ausländerinnen.

Am 18.8. wird es in Wunsiedel (BRD) im Zusammenhang mit einer geplanten Ehrung des Naziführers Rudolf Hess voraussichtlich zu einer massenhaften Faschistenzusammenrottung kommen. Hess war der Stellvertreter Hitlers, bis er sich nach England absetzte. Er wurde dann von den Alliierten bis zu seinem Tod in Berlin-Spandau gefangen gehalten. Hess wird von den faschistischen Banden als Märtyrer verherrlicht. Dazu ist eine BRD/DDR -weite Gegenaktion geplant

Nähere Infos zu all diesen Terminen sind in Ostberlin im Infoladen Bandito Rosso, oder im Infoladen Mainzer Straße 5 zu erhalten. Zeigen wir den Faschisten, dass auch der Sommer nicht ihnen gehört
d.w.

Rassistische Polizei

– Aus Zeitschrift telegraph, Nr. 13/90, vom 6. August 1990 –

Rumänischen Flüchtlinge auf den Berliner Ostbahnhof, 1990
Rumänischen Flüchtlinge auf den Berliner Ostbahnhof, 1990 – Fotoquelle: http://telegraph.cc

Berlin/Ost – Hauptbahnhof, in der Nacht vom Samstag zu Sonntag (28729. Juli), in den Zeit zwischen 22 und 1 Uhr, greifen 6 Faschisten die im Bahnhof kampierenden bulgarischen und rumänischen Flüchtlinge an.
Daraufhin ziehen starke Polizeikräfte mit Helm,Schild, Knüppeln und Hunden im Bahnhofsfoyer auf.

Aber statt die Faschisten zu verjagen, prügelten und traten die Polizisten die rumänischen Frauen, Kinder und Männer brutal aus dem Bahnhofsgebäude und dem Bahnhofsgelände. Panisch flüchteten sich die Rumänen und Bulgaren mit ihrer spärlichen Habe auf den Mauerstreifen (Nähe Köpenicker Strasse) 13 Bulgaren wurden festgenommen.
Westberliner und Ostberliner Polizei verhinderten gemeinsam, dass die Flüchtlinge Westberliner Territorium betraten. Herbeieilende Antifas wurden auf dem Hauptbahnhof von den Staatsschützern beschimpft und ihnen wurden Prügel angeboten.

Die Flüchtlinge mussten sich die ganze Nacht auf dem Grenzstreifen aust Angst vor Nazis und Polizisten verkriechen. Die Terrorüberfälle der “Volkspolizei“ auf rumänische Flüchtlinge, die als einziges grauenvolles Übernachtungsquartier Bahnhöfen haben sind in den letzten Tagen „Normalzustand“ geworden.

Rassismus scheint Staatspolitik geworden zu sein. Am Freitag, den 27. Juli wurden gegen 21 Uhr schlafende Bulgaren und Rumänen aus dem Hauptbahnhof geknüppelt. Sie sammelten sich auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof. Die Polizei rückte an und trieb die Leute mit Tränengas und Wasserwerfern auseinander. Am 21. 7. versuchte die Bahnpolizei Polen am Aussteigen aus einem Zug aus Warschau zu hindern. Die Leute drängten trotzdem aus dem Zug. Daraufhin ging die Polizei mit Wasserwerfern, Gas, Hunden und Knüppeln vor. Bezeichnend auch, dass darüber in den Medien kein Wort zu sehen war.

Noch kurz zu den in letzter Zeit ausgestreuten Gerüchten über Zwistigkeiten zwischen Flüchtlinge und Ausländerinnen in Westberlin und andererseits Neuankömmlinge“ aus Ostberlin. Zwei Autos mit Türken fuhren auf dem Grenzstreifen und verteilten an die rumänischen Flüchtlinge Getränke.
d.t.

Ausländerhass in der DDR unbekannt

– aus Zeitschrift telegraph, Nr. 13/90, vom 6. August 1990 –

Information des Unabhängigen Kontakttelefons Ostberlin:

Vom 6. bis 8. Juli war ein Antifa-Seminar geplant, an dem sich in Westberlin lebende jugoslawische, türkische, bulgarische, palästinensische und deutsche Jugendliche mit Jugendlichen aus der DDR austauschen wollten.
Das Treffen fand in der Jugendherberge „Kiefert“ in Berlin-Grünau statt. Bereits im Vorfeld sei die Buchung der Herberge schwierig gewesen.

Bereits am Freitagabend wurden die Jugendlichen von ca. 40 Faschisten überfallen. Es gab mehrere Verletzungen, einem Mädchen wurde mit einer Flasche ins Gesicht geschlagen. Der Heimleiter wollte anfänglich die Polizei nicht verständigen (er sei „irritiert gewesen“).
Als diese dann erschien, habe sie der Schlägerei nur zugesehen und auch den ausländischen Jugendlichen einen Begleitschutz verwehrt, berichteten betroffene Jugendliche.
Inzwischen soll der Westberliner Senat eine Strafanzeige wegen Untätigkeit gegen die diensthabenden Volkspolizisten erwägen.

Als sich am folgenden Tag ein Referent beim Heimleiter nach dem Seminar erkundigte, bekam er nur die lakonische Antwort, die Jugendlichen seien wieder abgereist – von den Vorfällen am Vortag erwähnte der Heimleiter nichts.

Wir hoffen anhand von Gedächtnisprotokollen der Betroffenen in den
nächsten Tagen mehr darüber berichten zu können.

Berlin, 9. 7. 90, Unabhängiges Kontakttelefon, g. h.