Das NKWD/SMAD-Lager Ketschendorf

Bereits ab Kriegsende wurden Speziallager der SMAD und des NKWD geschaffen, wo vor allem Kriegsgefangene, Naziverbrecher aber auch viele unschuldige interniert waren.. Diese Lager basierten auf Alliierten-Recht, nachdem in allen Besatzungszonen durch die Siegermächte Internierungslager errichtet werden durften, die für die „Aufbewahrung“ von Personen gedacht waren, die den „Aufbau“ der „neuen Gesellschaft“ stören könnten, bzw. verbrechen begangen hatten.

In einer ehemaligen Arbeitersiedlung der Deutschen Kabel-Werke im heute zu Fürstenwalde gehörenden Ort Ketschendorf wurde im Mai 1945 vom NKWD das „Speziallager Nr. 5“ eingerichtet. Nach Vernichtung aller Möbel und Einrichtungsgegenstände in sechs Häusern mit je neun Zweizimmerwohnungen sowie in mehreren Einfamilienhäusern trafen die ersten Häftlinge in kleineren und größeren Gruppen zu Fuß im Lager ein. Interniert wurde anfangs gemischt, später dann getrennt nach Alten, Frauen, Männern, Jugendlichen. Es gab dort auch Weißrussen, die auf der Seite der Wehrmacht gekämpft haben. Durchschnittlich befanden sich 6000 Gefangene in Ketschendorf, vor allem Verhaftete aus Berlin und der Mark Brandenburg. 1946 stieg diese Zahl auf 10000 an. Wesentlich ist zu bemerken, daß dieses Lager nicht nur mit, als Nazis bekannten, Personen gefüllt wurde. Neben etlichen Kriegsgefangenen lieferte der NKWD auch sowjetische Zivilisten („0starbeiter“) ein. Gründe für die Verhaftung waren oft für die Bevölkerung nicht durchschaubar und wirkten willkürlich. Berüchtigt war Ketschendorf vor allem wegen seiner hohen Zahl von gefangenen Jugendlichen (mehr als 1600), die unter „Werwolf“-Verdacht dorthin verschleppt wurden.

Die Taktik der Vernichtung bestand nicht in Schläge, Folter, Vergasen, sondern im sich nicht kümmern. Das Lager wurde ab Nov. 1945 von einer deutschen Lagerleitung, aus ehemaligen NSDAP-Polizeioffizieren übernommen. Und da erst begannen die Schikanen verschiedenster Art gegen die Inhaftierten. Die Internierungen erfolgten ohne Verfahren, Urteil, Möglichkeiten der Verteidigung. Angehörige wurden nicht benachrichtigt und die Inhaftierten galten als vermißt. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal.

Über die zustände in Kätschendorf berichtet Kurt Noack, Jahrgang 1930. wie viele seiner Altersgefährten mußte er in den letzten Kriegsmonaten in Hitlers „Volkssturm“ dienen. Zum Einsatz gegen die Rote Armee kam er selbst nicht mehr. Zusammen mit rund 1600 vierzehn- bis achtzehnjährigen Altersgenossen wurde der aus Groß-Kölzig stammende Jugendliche im Herbst 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in das Internierungslager Ketschendorf verschleppt. Die Jungen wurden beschuldigt, der faschistischen Werwolf-Organisation angehört und Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen zu haben. Mit von Schlägen begleiteten Verhören in NKWD-Kellern begann für Noack ein dreijähriger Leidensweg durch die Lager Ketschendorf, Jamlitz und Buchenwald:

„…Grünbemützte Posten führten unsere Gruppe durch eine `Schleuse in eine von Stacheldraht, Wachtürmen und einem Bretterzaun umgebene Wohnsiedlung aus zweigeschossigen Häusern: das Lager Ketschendorf.

Wir mußten nackt an Russen in weißen Arztekitteln vorbeimarschieren und wurden gefilzt. Danach brachte man uns zum Entlausen in den Keller eines Hauses am Ende des Lagers. Hier hatte ich den ersten entsetzlichen Eindruck. Nackte, abgezehrte Gestalten saßen da und warteten auf ihre dünne, abgerissene Kleidung, die sich in der Hitze einer Entlausungskammer befand. Es waren Gefangene, die schon seit Wochen und Monaten, vielfach seit dem frühen Sommer dem Hunger ausgesetzt und in der Mehrheit von Krankheit und den unmenschlichen Lagerbedingungen gezeichnet waren. Alle waren an Kopf und Körper kahlgeschoren. Wer von den Neuankömmlingen noch nicht glatzköpfig war, verlor hier seine Haare. Der Anblick der Gestalten in dieser Entlausung zählte zu den nachhaltigsten Eindrücken, die ich in der ersten. Zeit im Lager gewann. Nie zuvor sah ich so etwas. Ich fand ähnliches später nur in den Bildern aus Nazi-KZs wieder.

Die Temperaturen bei der Entlausung reichten in der Regel nicht aus, um alles Ungeziefer zu töten. Oft genug hatten wir später den Eindruck, daß die Läuse durch die Wärme schneller a.us den Nissen krochen, sich die Plage mit allen Arten von Ungeziefer am Körper und in der Kleidung durch die sich in Abständen wiederholenden Entlausungen nur noch vergrößerte. Kleider- und Kopfläuse, Flöhe und Wanzen wurden wir nicht los. Andererseits machten die Entlausungen unsere Kleidung brüchig und verkürzten ihre Lebensdauer. Zum Zeitpunkt meiner Einlieferung mögen reichlich dreißig Jugendzüge im sogenannten Haus l existiert haben. Diese Zahl erhöhte sich bis Jahresende durch Zugänge aus den verschiedenen GPU-Dienststellen des Ketschendorfer Einzugsgebietes um etwa weitere vier bis fünf Züge. Jeder Zug bestand aus fünfzig Mann, so daß sich zu dieser Zeit etwa 1600 Jugendliche in Ketschendorf befunden haben mögen – in einem Haus mit zwei Eingängen und jeweils sechs Wohnungen mit Kellern. Während der ersten Tage fand ich nur einen Platz auf der oberen Treppe im schon kalten Hausflur. Auf den Treppenstufen schlief ich auch.

Dann wurde ich dem Keller 7 zugeteilt. Mein erster Kelleraufenthalt dauerte nur wenige Tage. In Kellern lag ich dann nochmalsfür längere Zeit im Sommer des folgenden Jahres. In jedem der größeren Räume und den Kellern, kaum größer als jeweils achtzehn Quadratmeter, lebten in unbeschreiblicher Enge vierzig bis fünfzig Mann. Die kleinen Küchen boten Platz für rund fünfzehn Mann. Zu jeder von uns belegten Wohnung gehörte ein Badezimmer mit Klo und Badewanne, in der sich das Wasser zum Spülen befand. Von ihm wurde leider auch getrunken, wenn Not war für die, die durch Krankheit und Hunger ihren Widerstandswillen bereits verloren hatten und schwach geworden waren. Das führte immer zur Ruhr mit ihren unerbittlichen Folgen, ihrem fast aussichtslosen Verlauf, Ein Beispiel dafür war ein Fabrikantensohn aus Witten-berge, der nach dem Genuß fauliger Mohrrüben aus dem gefrorenen Abfall vor der Küche von diesem Wasser trank und danach nur noch Tage lebte.

Wir hatten in allen Räumen gerade Platz genug, wie in einer Sardinenbüchse nachts auf der Seite zu liegen und uns gemeinsam umzudrehen, wenn dazu von jemandem der Ruf kam. Eine gewisse Auflockerung trat 1946 ein, als wir aus altem Material eines abgerissenen Kriegsgefangenenlagers drei Stock hohe Pritschen, Regalen gleich, bauen durften. Viele hatten durch das Liegen auf den bloßen Brettern und Dielen oder auf dem Betonboden der Keller durchgelegene Stellen am Körper, die zu großen braunen Flecken auf der Haut, vor allem über Schlüsselbein und Beckenknochen, wurden. Bei einem meiner Freunde stellten sich mit der Zeit erhebliche Deformierungen des Körpers ein. Die Knochen gaben dem harten Fußboden nach.

Tagsüber mußte zur Verrichtung der Notdurft der Donnerbalken hinter den Häusern aufgesucht werden. Das war eine überdachte lange Grube, vor der ein Balken als Sitz angebracht war. Später gab es eine Änderung auf eine Art französi-scher Technologie. Nach dieser Methode wurde die ganze Grube mit einer Bretterschalung überdeckt, in die runde Löcher mit entsprechendem Durchmesser eingeschnitten waren. Die verbesserte Technologie hatte allerdings den schmerzenden Nachteil, daß beim Hocken die die meisten Jugendlichen plagende Eiterborke am Gesäß riß, der Eiter zwar abtropfte, sich aber die Erreger neu verbreiten konnten und die Kleidung immer mehr verschmutzte. Papier befand sich unter uns Häftlingen nicht das allerkleinste Stück. Was der Mensch für die Toilette braucht, verrichtete bei vielen ein kleiner Lappen, der nach seiner Benutzung zusammengerollt und wieder in die Tasche gesteckt wurde.

Mit dem Abtransport von knapp 2000 im Lager befindlichen Russen aus der Armee des Überläufer-Generals Wlassow am 28. November lockerte sich die Enge etwas. Die kleinen Häuser an der Lagerstraße wurden dadurch für uns frei. Tausend Gerüchte gingen mit diesem Transport einher, wie später noch so oft. Viele Möglichkeiten waren im Gespräch. Die meisten glaubten an einen Transport aller in Richtung Rußland. Andere meinten, daß wir Weihnachten wieder zu Hause sein würden. So oft solche Parolen auch Hoffnung auslösten, so oft bedrückten sie uns, wenn die Hoffnungen zerrannen. Dennoch gehörten sie zum Lageralltag, sie hielten uns immer in Spannung. Beispielsweise lief immer wieder das Gerücht durchs Lager, daß die Entlassungsscheine schon da wären, man wußte sogar, welche Farbe sie hatten. Für die Kranken und Schwachen bedeutete das einen Strohhalm, an den sie sich mit den verbliebenen Kräften klammern konnten. Es bedeutete aber auch oft das schnelle Ende, wenn nicht eintrat, was erträumt wurde.

Hier, in den kleinen Häusern, stieß ich auf den ehemaligen NSDAP-Kreisleiter von Sorau/Forst, Erich Najork aus Noßdorf. Ich wußte von seiner Zuständigkeit für die Morde an kriegsmüden Soldaten in Forst, die ich am Galgen sah. Najork zählte 1947 zu den Toten von Mühlberg. Der Winter rückte heran, Weihnachten kam näher, die Stimmung sank. Der erste Winter brachte Kälte und Finsternis in die Unterkünfte. Holz war knapp. Mit Glühbirnen mußte sorgsam umgegangen werden. Wir saßen herum oder hielten uns in Bewegung, beschäftigten uns irgendwie und froren dabei redeten vom Essen und erzählten von zu Hause. Noch immer glaubten wir daran, daß die Sorge unserer Mütter um ihre verschwundenen Söhne keine Ewigkeit dauern würde.

Früh warteten wir in Gruppen auf Brot, das, in einer Decke getragen, nach dem Zählappell zugweise geholt werden mußte und nicht selten von Ratten angefressen war. Das Teilen kam einer Zeremonie gleich. Sechs Mann teilten sich ein Brot. Einzige gewohnte Beigabe war neben Kaffee ein Löffel Zucker, überwiegend von der ungereinigten braunen Qualität. Das Brot wurde hauptsächlich mit selbstgebautem Werkzeug zerlegt. Wir bedienten uns dazu eines Drahtes, an dessen beiden Enden je ein Holzgriff zum Anfassen befestigt war, oder eines aus angeschärftem Blech selbstgefertigten Schneidewerkzeuges. Insbesondere der Besitz eines solchen Blechs war streng verboten. Deswegen mußte es sorgsam versteckt gehalten werden. Einer meiner Kölziger Kameraden wurde bei der Benutzung eines dieser „Messer“ von Knoke, dem Hauskommandanten, durch das Fenster beobachtet und bestraft. Zehn Tage mußte er dafür in den Bunker.

Eine solche Strafe konnte den Tod bedeuten, wenn sie einen schon nicht mehr Gesunden traf, weil es neben dem einen täglichen schmalen Stück Brot während dieser Zeit nur einmal, am fünften Tag, warmes Essen gab. Es war außerdem nicht gestattet, Decke oder Mantel mit in den Keller zu nehmen, um sich vor dem bloßen Betonboden zu schützen. Unangemessene Strafen für Kleinigkeiten waren von den Russen gewollt und wurden vom deutschen Häftlingspersonal gewissenhaft und rücksichtslos ausgeführt. In diesem Fall überstand das Opfer den Bunker, doch der besagte Kamerad war nach zehn Tagen kaum wiederzuerkennen.

Mittags holten Essenholer jedes Zuges einen Kübel Grützsuppe, die vom Essenausgeber, meist dem Zugführer, verteilt wurde. Abends wurde nochmals Suppe verteilt, die genauso dünn wie mittags war. Die in der Suppe gefundene Grütze entsprach selten mehr als zwei Löffel je Schlag. Ein Fleischstück war die Ausnahme, Fettaugen konnte man zählen, Kartoffeln waren kaum darin. Niemand von uns hatte eine Möglichkeit zur Beschaffung zusätzlichen Essens. Wer aufpaßte, zupfte im Frühjahr eßbares Grün. Jugendliche wurden grundsätzlich nicht den Arbeitskommandos zugeteilt, die innerhalb des Lagers zur Aufrechterhaltung der einfachsten Lebensvoraussetzungen erforderlich waren, wie Küche, Brotfahrer, Holzplatz, Revier, Entlausung, Leichenträger oder andere. Wir hatten noch keine Berufe, waren Schüler oder Lehrlinge, und konnten folglich auch nicht, wie einige wenige Handwerker, den Offizieren irgendwie nützlich sein oder anderswo eine Chance auf zusätzliches Essen nutzen.

Eine Flucht war völlig ausgeschlossen. Uns trennten hoher Stacheldraht und ein mindestens zwei Meter hoher, dicht gefügter Bretterzaun von der Außenwelt. Von letzterem wußten wir, daß er noch mindestens einen halben Meter tief in die Erde eingelassen war. Der Abstand zwischen den Wachtürmen am Zaun entlang war, unserer „Gefährlichkeit“ entsprechend, sehr dicht. Vier Stunden hatten die Posten hinter dem MG jeweils Dienst und richteten ihren grimmigen Blick auf das Lager. In frostigen Nächten hörten wir ihre Stiefel auf dem Holz, wenn sie versuchten, die Füße warmzuhalten.

Durch den anhaltenden Hunger und die einseitige Ernährung hatten wir schon im ersten Winter Erscheinungen von Vitamin- und Eiweißmangel. Wir bekamen Wasser – zuerst in den Beinen – und Skorbut, litten unter vielen Furunkeln, Krätze und maßlos viel Eiter. Meine Haut wurde schuppig, das Zahnfleisch blau, die Zähne wurden locker, die Haare dünn und die Fingernägel weich. Alle diese Hungerfolgen prägten sich insbesondere bei uns Jugendlichen stark aus und zeigten sich in dieser Form weniger auf der Haut der älteren Häftlinge, bei denen Rose, Bartflechte und ähnliches dominierten.

Mit der Märzsonne, mit Hilfe eines öligen Mittels gegen die Krätze und später mit etwas Melde und Brennessel in der Suppe besserte sich die Situation etwas. Die Krätze aber blieb in der Regel und machte den meisten noch im Sommer schwer zu schaffen. In meinen Beinen stieg in diesem Frühjahr das Wasser bis in die Oberschenkel, machte aber zu meinem Glück vor dem Bauch halt. Gegen das Wasser erhielten wir unregelmäßig einen Kiefernnadelaufguß, der unübertreffbar bitter schmeckte.

Unser erstes Lagerweihnachten ging undramatisch vorbei. Es wurde zu einer wirklich stillen Nacht, weil Gesang verboten war und auch niemand Lust zu einem Weihnachtslied verspürte. Wir nahmen unsere Lage hin und hofften auf baldige Entlassung. Schmerzlicher war Weihnachten für die Männer, die Frauen und Kinder zu Hause hatten. Es gab sichtbare Beispiele dafür. Im Januar/Februar wuchs die Anzahl der täglich Sterbenden, die damals noch auf den Schultern ihrer Träger, nackt oder nur spärlich bedeckt, in ihr Massengrab im nahegelegenen Wäldchen geschleppt und hineingeworfen wurden.

Meine Verfassung in der Zeit des Februar 46 prägte sich mir nachhaltig ein. Schon einige Zeit lief ich auffällig durchs Lager, die Arme in der Waagerechten, weil eine dicke Eiterborke in beiden Achselhöhlen und an den Seiten des Brustkorbes jede andere Armhaltung unmöglich machte, sonst wäre die Borke gerissen und hätte mir Schmerzen bereitet. Zu allem Eiter und den vielen Furunkeln am Kopf, am Gesäß und an den Beinen gesellte sich dann noch ein Riesenabszeß in der linken Leistenbeuge, dessen Oberfläche blaugrün, hart und sehr schmerzend war. Dadurch konnte ich schließlich kaum noch laufen. Das entnervte mich zusehends, nahm mir Kraft und Mut. Bevor man mich am 20. Februar ins Lazarett schleppte, verabschiedete ich mich von einem Kölziger Kumpel, als sähen wir uns zum letzten Mal – mit Gruß nach Hause, falls er durchkommen sollte, und der Übergabe meiner Habseligkeiten.

Im Lazarett, Revier nannten wir es auch, kam ich am nächsten Tag in die Hände von Doktor Rosaljewitsch, des pokkennarbigen russischen Arztes, der wegen seiner Dienste für Wlassow selber Häftling und seltsamerweise noch im Lager verblieben war. Nackt lag ich auf einem gewöhnlichen Tisch. Mit einer Schere brachte er mir einen Schnitt bei. Mein Schrei muß tierisch gewesen sein. Was herauskam, war viel, fast schwarz und roch nicht gut. Nach genauem Hinsehen stellte er in den Achselhöhlen noch je einen Schweißdrüsenabszeß fest. Das Verfahren der Behandlung war das gleiche, und die Schere muß auch dieselbe gewesen sein.

In meinem Krankenzimmer sah ich fast nur Eiternde. Im Raum standen aus Holz gezimmerte schmale Pritschen mit je einem apathisch daliegenden Kranken. Die meisten hatten offene, als Folge von Ödemen geplatzte Beine, die mit Hilfe untergelegter Steine so hoch lagen, daß Bratpfannen oder flache Töpfe darunter Platz hatten. Hier hinein tropfte der stinkende Eiter. Einige wimmerten, jeder schien vor sich hin zu faulen. Behandelt wurde nicht, falls nicht gerade eine Standardsalbe oder Jod passend waren. Ein Sanitäter gab mir einen Platz im hinteren Teil des Rau-mes zwischen zwei Pritschen auf dem Fußboden. Ich überlegte trotz meiner geschundenen Psyche. Klar war mir zweierlei: Zuerst mußte ich hier auf dem schnellsten Wege raus, um nicht für mich den Weg in die Massengräber zwischen Lagerzaun und Autobahn ganz kurz zu machen. Zum zweiten brauchte ich einen Platz auf den Pritschen, um nicht getreten zu werden. Es klingt makaber, aber meine Aufmerksamkeit galt dem rechten Nebenmann. Ich hatte bereits genug Erfahrung, um einschätzen zu können, daß sein leises Stöhnen nicht mehr lange dauern würde. Noch war es wahrnehmbar. Ich versuchte deswegen, nach dem Dunkelwerden wach zu bleiben, um den Sanis zuvorzukommen und die Platzfrage selbst zu regeln. Irgendwann war es dann auch soweit, daß der Kamerad neben mir schließlich ausgelitten hatte. Ich tauschte den Platz mit ihm. Der Vorzug der Pritsche konnte ihm ohnehin nichts mehr nützen. Ich hoffte, daß der Tausch nicht auffallen würde, wenn die Sanis früh kamen. Durch den Tod des Nebenmannes kam ich unverhofft zu seinem letzten Brot, das am Kopfende lag, sowie zu seinen Schuhen. Die Schuhe waren von großem Nutzen, weil meine eigenen mir erst bei der letzten Entlausung weggenommen worden waren und ich immer Angst davor hatte, nur meine selbstgebauten Pantinen an den Füßen zu tragen, wenn es einmal auf Transport gehen sollte.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob mein Umgang mit dem toten Kameraden richtig war. Eine Antwort konnte ich mir nicht geben. Genau ein Jahr danach, im strengen Frost des Februar 1947, war es in Jamlitz normal, daß die nachts Verstorbenen morgens unbekleidet auf ihrer Pritsche lagen. So verbesserte der Tod des einen die Chancen der anderen. In Ketschendorf wußten wir, daß die Sanis Goldzähne an die Russen weitergaben und Speck dafür bekamen.

Meine nächtliche Tat blieb unbemerkt. Der Kumpel wurde hinausgetragen, und ich behielt meinen Platz, ohne daß die Sanis mitbekamen, wer nun wer war. Es ging sowieso alles namenlos zu, wenn man von der Vernehmungsakte jedes einzelnen in der Kommandantur absieht, die mit Sicherheit keinen Vermerk erhielt nach dem Abgang in das Massengrab. Für die meisten der mehr als 4000 in Ketschendorf bis Februar 1947 Umgekommenen begann der Weg dorthin im Lazarett. Von hier kamen die Toten in den hinter dem Gebäude liegenden Erdbunker, zu dem die Ratten ungehindert Zutritt hatten. Ich sah Löcher in den Gliedmaßen der Toten, wenn das Leichenkommando auf dem Weg zum Tor meistens früh am Jugendhaus vorbeikam und Arme oder Beine von den Tragen hingen. Es war täglich die gleiche Zeremonie. Wir entblößten zu Ehren der toten Leidensgenossen unsere Häupter und verharrten still. Auch das wurde Alltag. Ein oben abgeschnittener Zirkuswagen war später dann das Transportmittel für die tägliche tote Fracht nach draußen.

Der Winter ging vorbei, und wir hatten noch lange mit seinen Auswirkungen auf unseren körperlichen Zustand zu tun. Unsere Verfassung war schlecht. Ein Kamerad aus Klein-Köl-zig, sechzehn Jahre alt, litt zunehmend unter Wasser und deswegen unter Durst. Er kannte die damit verbundene Gefahr, widerstand ihr aber nicht. Wir versuchten, ihn zu kontrollieren und vom Trinken abzuhalten. Das Wasser erreichte seinen Bauch, machte den Hoden groß. Nur wenige Tage lebte er noch. Anfang April starb er. Viele aus unserer Gruppe folgten ihm und wurden im Wäldchen an der Autobahn verscharrt.

Ich zählte inzwischen zu den Dystrophikern der Gruppe vier [das war der stärkste Abmagerungsgrad – d. Verf.]. Diese Einstufung nutzte mir allerdings nichts. Ich blieb es für lange Zeit. So abgezehrt war ich, daß meine Mütze beim Herabrutschen an den Backenknochen hängenblieb oder das Wasser aus den Vertiefungen am Schlüsselbein nach dem gelegentlichen Duschen nicht ablief. Die Beine waren spindeldürr, mein Blut war wäßrig und dünn. Die Fingernägel wurden weich, die Haut schuppig. Ich hatte Anzeichen von Skorbut. Mein Kopf schien hundert Ecken zu haben. Die Krätze war noch lange nicht abgeheilt.

Die stärker werdende Sonne half uns. An warmen Tagen saßen wir auf den Fensterbrettern und hielten unseren Allerwertesten in der Hoffnung auf Heilung in die Sonne. Die Furunkulose am Hintern nannten wir Streuselkuchen, weil die Eiterborke so dicht wie Streusel auf einem Kuchen war. Dieses tolle Bild fiel schließlich einem dicken Major unangenehm auf, und er verbot uns diese Art der Therapie. Wir zögerten auch nicht, ohne Hose im Lager herumzulaufen, und hielten uns dabei das Hemd weit vom Leibe, auch unter den Augen der, Frauen aus dem benachbarten Zwinger. Jedes Mittel war uns recht. Dazu zählte selbst der eigene Urin, mit dem wir die kranke Haut behandelten. Das war eine schmerzhafte Prozedur, es brannte und tat gräßlich weh. Urin benutzten manche auch gegen Halsentzündungen, sie gurgelten damit und schworen darauf. Allerdmgs – und dabei hoben sie den Finger – ginge das nur mit gesundem Urin. Wer aber wußte schon, was an uns noch gesund war und was nicht? Den vielen Wucherungen von wildem Fleisch an den überall vorhandenen Furunkeln begegneten wir mit dem Aufstreuen von Zucker. Manche glaubten, Erfolge beobachten zu können. Gegen Wasser schützten wir uns, indem wir eine Kiste an den Ofen stellten, uns auf den Fußboden legten und die Beine auf der Kiste in die Wärme des Ofens hielten. Es gab kaum Medikamente. Den Ärzten stand nicht einmal das Allernotwendigste zur Verfügung. Ihnen begegneten Krankheiten, die es im normalen Leben vielleicht gar nicht gab. Ich sah einmal Fiebertabletten, auch von Wassertabletten war die Rede. Sonst gab es nichts, keine Mittel gegen Durchfall und Ruhr, nichts gegen Erkältungen und Lungenentzündung, kein Verbandsmaterial, nur Jod in verschiedenen Farben. Wir bekamen Fichtennadeltee gegen Wasser, Medigal gegen Krätze sowie die von Doktor Rosaljewitsch erfundene Salbe gegen Furunkel und offene Beine. Zahnbehandlung war unbekannt. Vielen wäre das Leben erhalten geblieben, hätten die Arzte die Möglichkeit gehabt, wäßrige Erscheinungen an Lunge und Rippenfell durch Punktieren zu behandeln. Wir waren der völlig unzulänglichen Lagerhygiene hilflos ausgesetzt. Es gab kein Papier für den bekannten hinterlistigen Zweck. Niemand besaß eine Zahnbürste, jeder hatte Ungeziefer, war schmutzig und mühte sich, den Eiter aus seiner Wäsche hin und wieder mit Wasser zu entfernen. Gelegentlich bekamen wir Waschpulver, wuschen damit unsere Kleidung und säuberten damit auch den Fußboden, worauf von den beiden russischen Lagerärztinnen und vom deutschen Häftlingskommandanten Knoke großer Wert gelegt wurde. Knoke verordnete zusätzlich Backsteine, mit denen wir die Dielen unter Zuhilfenahme von Wasser in einen Zustand zu versetzen hatten, der gehobeltem Holz gleichkam.

Geachtet wurde auch darauf, daß wir regelmäßig kahlgeschoren wurden und auch sonst alle Körperhaare verloren. Die Sanis machten sich mit viel Geschick selbst zwischen den Beinen zu schaffen. Trotzdem verloren sich die Kopf- und Filzläuse nie. Als einzige Wasserquelle stand uns eine Handpumpe zur Verfügung, dazu – außer dem Duschkeller in der Entlausung -während der frostfreien Zeit zwei offene Waschanlagen, wo das Wasser aus durchlöcherten Rohren in eine Krippe lief. Das waren auch die Stellen, wo die Eßgefäße gesäubert wurden, sofern man sie nicht mit den Fingern von den Resten der Suppe befreien mußte.

Ende Mai zeigten sich bei mir Ruhrsymptome, deren deutlichste Form wir im blutigen Stuhl erkannten. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht bei mir nicht. Der Essensentzug bei Ruhr war die Ursache dafür, daß manche die beginnende Krankheit verheimlichten. Deswegen waren Klosettwachen eingesetzt, die jeden Stuhl zu überprüfen hatten.

.In dieser Zeit lernte ich Marianne Simson kennen, die im Frauenzwinger saß und dem Arbeitskommando angehörte, das im Lazarett Dienst tat. Ich kannte sie als Schauspielerin aus mehreren Filmen. Marianne Simson war eine von etwa 500 Frauen, von der Schülerin bis zur Greisin, die in einem Stacheldrahtzwinger gegenüber unseren Häusern untergebracht waren. Es genügte für die Jüngste die Mitgliedschaft beim BDM, um verhaftet und nach Ketschendorf gebracht zu werden. Es sollen in Ketschendorf drei Kinder geboren worden sein, deren Mütter schon bei der Verhaftung schwanger waren. Die Unterkünfte im Frauenlager waren genauso überbelegt wie bei uns, bis zu vierzig Personen in einem Raum. Einigen Frauen waren die Kopfhaare geschoren worden, vielleicht der Läuse wegen. Allein aus Forst waren zwei Mädchen im Lager, deren Väter unter uns weilten. Max Klein, der im Februar ’47 in Jamlitz umkam, mußte in den Bunker, weil seine sechzehnjährige Tochter ihm ein Stück von ihrem Brot zuwarf, was genauso verboten war wie das Gespräch durch den Stacheldrahtzaun. Ein anderes Mädchen bekam ebenfalls drei Tage wegen eines Stückes Brot für ihren Vater. Die Kom-mandantin des Frauenlagers hieß Hertel.

Im Männerlager befanden sich außer einem Amerikaner zwei Inder, die durch ihre Kopfbedeckung und die braune Hautfarbe auffielen. Diese Tatsache war für uns kaum erstaunlich, denn wir wußten, daß damals schon der Schein genügte, um der Spionage verdächtigt zu werden. In solchem Falle war es dem NKWD völlig egal, ob der Verdacht Inder, Amerikaner oder Deutsche, Kinder oder Greise traf.

In einem der Züge des Hauses 4 lebte noch im Sommer ein Häftliffg – Tee-Großkaufmann in Danzig soll er gewesen sein -, der bei den Verhören nach seiner Verhaftung eine so üble Behandlung erfahren hatte, daß er den Verstand verlor. Ich erlebte ihn seit 1945 nie anders als so: Kopfschüttelnd oder -nickend mit nach vorn gerichtetem Blick, mit immer unruhigen Händen, ständig laufend, gab er fortwährend und monoton von sich: „Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße, nicht stehenbleiben, so schön weitergehen! Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße. . .“ Und das den ganzen Tag, über Monate hinweg. Jeder von uns bedauerte ihn. Ein tragischer Fall, der irgendwann ein Ende durch den Tod fand. Der Mann muß in Ketschendorf geblieben sein, denn er tauchte weder in Jamlitz noch in Neubrandenburg je wieder auf.

Ich holte manchmal Leute in unsere Unterkunft, die uns von ihren Erinnerungen an ihre Berufe erzählten. In der Regel war das mit einer kleinen Brotzuwendung verbunden. So brachten wir Abwechslung in unseren Alltag, der eigentlich aus nichts anderem bestand, als auf die Brot- und Essenholer zu warten, aus Läuseknacken, dem Rundgang auf dem Platz hinter den Häusern 2 und 3 und aus Gesprächen über Themen, die Hungernde bewegen. Ich beschäftigte mich viel mit meiner Nähnadel, konnte auf einfache Weise schließlich stricken, beschäftigte mich mit dem selbstgebauten Schachspiel. Schachspielen war das einzige, was die Sowjets gestatteten. Außerdem lösten wir Kreuzworträtsel, die wir uns untereinander aufgaben. Dazu benutzten wir glatte Brettchen und Stifte aus Aluminiumdraht als Schreibutensilien. Seitdem wir Waschpulver bekamen, hatten wir auch Skatkarten von kleinem Format, die wir aus den Verpackungen anfertigten. Skatspiel und Rätselraten mußten wir allerdings vor den Augen von Knoke, der Sergeanten und der Ärztinnen verborgen halten.

Am 10. Juli 1946 überraschte uns eine große Krätzeuntersuchung. Wir suchten nach Erklärungen für das plötzliche Interesse der Russen an unserer Hautsituation. Natürlich kamen sofort die alten Gerüchte auf. Die einen wollten von einer Entlassung gehört haben, wir müßten nur erst einmal alle gesund sein. Die Pessimisten glaubten wieder an einen Transport nach Rußland. Dieser Tag der Krätzeuntersuchung könnte Pfingsten gewesen sein, genau der Tag, an dem die Freie Deutsche Jugend [FDJ – d. Verf.] in Brandenburg an der Ha-vel ihr Gründungsparlament durchführte und eine neue Politikergeneration gebar. Davon wußten wir nichts, aber es verhielt sich doch so: Nicht alle durften am neuen Leben teilnehmen. Wir waren bei ständiger Lebensgefahr dazu verdammt, für die politischen Fehler unserer Elterngeneration zu büßen, unabhängig davon, ob die Väter Nationalsozialisten oder Kommunisten waren, und wir hatten schließlich auch zu büßen für die im deutschen Namen während des Krieges begangenen Verbrechen an Leben und Freiheit ebenso unschuldiger Menschen, wie wir es waren.

Wir wußten überhaupt nicht mehr, was draußen geschah, seitdem die Zugänge aus den Gefängnissen und GPU-Kellern ausblieben. Aus Losungen, die auf Waggons der am Lager vorbeiführenden Eisenbahn gemalt waren, erfuhren wir, daß es draußen eine neue Partei gab, daß eine Wahl stattfand und Listen dabei eine Rolle spielten. Mehr aber blieb uns durch unsere hermetische Abschottung von der Außenwelt verborgen. Wir wußten nichts von unseren Familien, sie wußten nichts von uns. Für alle war das hart.

Wir gingen dem zweiten Ketschendorfer Winter entgegen. Er sollte nicht nur von den Temperaturen her schlimm werden. Die Rationen waren seit dem 4. November 1946 stark herabgesetzt worden. Dafür sollte es einen Befehl der obersten russischen Verwaltung gegeben haben. Später erfuhren wir, daß auch die Häftlinge in Jamlitz von dieser Essenskürzung überrascht worden waren. Die Brotportion betrug fortan nur noch um die 300 Gramm, die Suppe verlor schlagartig ihre festen Bestandteile. Diese Verschlechterung des Essens traf uns böse. Wir versuchten auszurechnen, für wie viele Wochen die Kraft noch reichen würde.

Illusionen hatte niemand. Die Hoffnung, zu überleben, verringerte sich ständig. An eine Entlassung glaubte zu dieser Zeit kaum noch jemand. Das Stimmungstief war deutlich. Daran konnten auch die bei Häftlingen älterer Jahrgänge mit den Namen von Frau und Kindern oder dem Ruf „Heim zu Mutti!“ bestickten Jacken und Mäntel nichts ändern. In diesem Winter lag für die meisten der Gedanke näher, daß niemand mehr aus dem Lager herauskommen würde. Zu viele waren schon ihren letzten Weg in die Massengräber im Wald gegangen. Ende 1946 entstand als Folge von Hunger und Kälte eine allgemeine Resignation.

Unsere Kleidung war zu dieser Zeit naturgemäß schon mehr als dürftig, denn wir trugen ja Tag und Nacht dieselben Sachen auf dem Körper, weil wir auf bloßen Brettern oder anfangs lange Zeit auf dem Betonfußboden der Keller lagen. Neue Sachen wurden nur in dem Maße verteilt, wie Verstorbene noch Brauchbares hinterließen. Viele von uns steckten auch in abgetragenen Sommeruniformen der Russen. Alle Gewebe waren durch die zahlreichen Entlausungen dünn geworden. Die Unterwäsche war steif vor Dreck. Ich erinnere mich, daß mein Hemd durch den Eiter stand. Auch Hosen habe ich stehen sehen. Waschen im Winter war unmöglich.
(…)
Der Häftlingskommandant in Ketschendorf hieß Kasimir. Er war selber Häftling, stammte aus einem der baltischen Länder, war Deutscher, sehr ernst, schon etwas älter und trug einen halbsteifen Hut, einen sauberen Anzug und einen Mantel mit Pelzkragen. So kannten wir ihn aus ungezählten Gängen durch das Lager. Er genoß Autorität bei uns, anders als beispielsweise „Bello“ Schröder, Polizeioffizier und einer dieser privilegierten Halunken der alten Güte, der Kasimirs Vertreter war und dem auch der Lagerschutz unterstand; Offizierstypen, die, wie Henry Knoke, Polizeichef aus Hannover und unser Hauskommandant, ausgesucht waren, um übereifrig eine Ordnung zu sichern, die uns das Leben noch schwerer machte. Zu diesen uniformierten Postenträgern zählten auch Bruchmann, Sprecher des `Großdeutschen Rundfunks´, oder Siebert, Kriegsgerichtsrat der Nazis, der, wie andere auch, noch in seiner alten Uniform steckte und Langschäfter trug. Sie alle hatten sich gefunden, weil sie sich kannten. Sie lebten von Essennachschlägen, froren nicht, waren sauber und ließen sich nicht nehmen, was ihr Privileg war.
(…)
Anfang 1947 war wieder die Rede von Transporten. Am 16. Januar war ich an der Reihe. Neben einer Anzahl „Alter“ wurden mit wenigen Ausnahmen alle A-Züge aufgerufen und nochmals entlaust. Zu diesen Zügen gehörten alle Jugendlichen, die am Tage ihrer Einlieferung in Ketschendorf noch nicht sechzehn Jahre alt waren. Die beiden jüngsten von uns waren zwölf und dreizehn Jahre bei ihrer Verhaftung. Sie wurden gleich nach dem Einmarsch der Russen aufgegriffen und gingen in ihrer Sommerkleidung den Weg nach Ketschendorf. Ich sah sie noch im November fünfundvierzig mit kurzen Hosen. Wenige Wochen später waren beide tot.

Die B-Züge, dazu gehörten die Jugendlichen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren, waren für diesen Transport nicht vorgesehen. Wie ich später erfuhr, brachte man sie nach unserem Abtransport in das Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg. Uns aber schaffte man nach Jamlitz…“

Anfang 1947 begann die Auflösung des Lagers. Die Häftlinge wurden nach Frankfurt/Oder, Jamlitz, Mühlberg und Fünfeichen transportiert. 2000 kamen in sowjetische Zwangsarbeitslager. Am 17. Februar 1947 wurde das Lager endgültig aufgelöst. Ein Restkommando von 50 Internierten mußte im April 1947 ins KZ Buchenwald. Mindestens 6000 Häftlinge sind infolge der Haftbedingungen in Ketschendorf gestorben.

Im Frühjahr 1952 sollten im Fürstenwalder Ortsteil Ketschendorf Wohnhäuser gebaut werden. Als Arbeiter die Fundamente ausschachteten, stießen sie auf die Überreste Hunderter von Leichen. Um Aufsehen zu vermeiden, wurde das Gelände) abgeriegelt; ein großer Teil der Toten sollte möglichst unauffällig abtransportiert und umgebettet werden. Viele Fürstenwalder wußten aber, wer da unter der Erde lag: Häftlinge des sowjetischen Internierungslagers Ketschendorf.

Vom März bis zum Mai kamen mehr als dreißigmal Lastwagen mit Holzkisten zum Waldfriedhof Halbe. ln diesen Kisten befanden sich Überreste von Menschen in stark verwestem Zustand. Die Leichen wurden, ohne daß man sie sorgfältig zählte oder gar identifizierte, in Massengräbern verscharrt. Beamte des Staatssicherheitsdienstes überwachten das Ganze. Mehr als 3000 Leichen wurden in Massengräber auf dem Friedhof Halbe verscharrt und mit falschen Inschriften versehen. „Unbekannt April 1945“ ist auf den Steinen im Gräberfeld 9 zu lesen. Später wurde bekannt, woher die Toten stammten: aus Ketschendorf.

Auf dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers befindet sich heute ein „Platz der Freiheit“. Doch nicht alle Ketschendorf-Opfer wurden damals umgebettet. Ein Teil der dort errichteten Neubauten an diesem Platz stehen auf einem Fundament aus Hunderten von Leichen.