DIE NEUE ALTE GEFAHR – Junge Faschisten in der DDR

von Konrad Weiß
Aus Antifa Infoblatt Ostberlin, Nr. 1, erschienen im Juli 1989

November 1987, Oranienburg bei Berlin: Hier, am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, wird eine Gruppe junger Faschisten festgenommen. Monatelang haben sie in Zügen, in Gaststätten, auf offener Straße Menschen überfallen und terrorisiert und dabei keinen Hehl aus ihrer Gesinnung gemacht. Bei den Verhafteten findet die Polizei faschistische Abzeichen und die Hakenkreuzfahne.
Dezember 1987, Berlin-Mitte: Vor dem Stadtbezirksgericht wird gegen vier Männer verhandelt, der jüngste siebzehn, der älteste dreiundzwanzig Jahre alt. Sie waren mit anderen Rechtsradikalen in die Zionskirche eingedrungen, um die „roten Punks aufzumischen, aufzuklatschen, aufzurauchen“. „Sieg Heil“ und „Juden raus aus deutschen Kirchen“ brüllend, haben sie feige und brutal junge Frauen und Männer zusammengeschlagen.
Januar 1988, Berlin: Erneut stehen acht faschistische Gewalttäter vor Gericht, die an den Ausschreitungen in der Zionskirche beteiligt waren. Es wird deutlich, daß das eine „gesamtdeutsche Aktion“ war; auch Skinheads aus Westberlin sind mit auf die Hatz nach Andersdenkenden, nach Punks und „schrägen Leuten“ gegangen.
Februar 1988, Bezirk Halle: Vier jugendliche Täter, die auf dem Städtischen Friedhof in Weißenfels schlimme Verwüstungen angerichtet haben, werden verurteilt. Einer hat sich zudem zu verantworten, weil er bei einer Schlägerei einen Mann roh mißhandelt hat.
März 1988, Berlin: Sechs Jugendliche werden wegen antisemitischer Ausschreitungen verhaftet. Auf dem historischen Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee haben sie mehr als zweihundert Grabsteine umgeworfen, beschmiert, geschändet, zerstört. Mehrere Nächte lang trieben sie, faschistische und antisemitische Parolen grölend, ihr Unwesen. Die Volkspolizei-Inspektion Prenzlauer Berg, die Tag und Nacht besetzt ist, grenzt unmittelbar an den Friedhof. Hätte man dort nicht schon nach den Zerstörungen der ersten Nacht aufmerksam werden und wachsamer sein müssen?
April 1988, Halle: Fünf junge Männer – Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter – stehen wegen eines rassistischen Verbrechens vor Gericht. Gemeinsam haben sie einen jungen Mocambiquaner zusammengeschlagen. „Einen Nigger aufklatschen“, so nannten sie das. Mai 1988, im Personenzug von Riesa nach Elsterwerda: Ohne jeden Anlaß beschimpfen jugendliche Arbeiter zwei Afrikaner, überschütten sie mit üblen rassistischen Parolen. Sie ergreifen einen der beiden Ausländer, schlagen auf ihn ein, treten ihn mit Füßen und stoßen ihn schließlich aus dem fahrenden Zug. Der Mann wird schwer verletzt. Die anderen Fahrgäste schweigen, keiner hat eingegriffen.
Dieses bedrückende Kalendarium der Gewalt, des Antisemitismus und Rassismus ließe sich fortsetzen. Man möchte meinen, es wären Nachrichten aus dem Pogromjahr 1938 oder solche, die aus einer fernen Weltgegend kommen. Daß dies alles sich heute und hier in unserem Land zugetragen hat, macht betroffen und ist schwer zu ertragen. Daran ändert auch das Wissen um die erfolgte Bestrafung nichts. Und es schmerzt mich zutiefst, daß ich junge Menschen, meine Mitbürger und nachgeborenen Zeitgenossen, Faschisten nennen muß.
Dennoch: Was hier zitiert wurde, ist nur die spektakuläre Spitze des Eisberges; längst nicht alle rechtsradikalen Aktivitäten und Gewalttaten sind öffentlich geworden. Die Fälle, die ich genannt habe, wurden in der Tagespresse und in Lokalzeitungen gemeldet. Gelegentlich gab es auch Hintergrundinformationen und Wertungen, so in „Sport und Technik“ (Heft 6/1988, S. 20 ff.) und im „Magazin“ (Heft 8/1988, S. 32 ff.). Tendenz dieser Veröffentlichungen war es, die faschistischen Ausschreitung als Einzelerscheinung, als Perversion gewissermaßen, und in Form und Inhalt aus dem Westen importiert darzustellen und zu verharmlosen. Nach dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die neuen faschistischen Gruppierungen entstehen und gedeihen konnten, wurde nicht gefragt und sollte nicht gefragt werden. Ein Kommentar in der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“ vom 26. Juni 1988, der dem nachging, wurde Anlaß zum Verbot der ganzen Ausgabe. Lediglich in der „Weltbühne“ (Nr. 35 vom 30.8.1988, S. 1115) wird in einem Leserbrief vor Verharmlosung und zu einfachen Antworten gewarnt.
Mittlerweile befassen sich zwei Soziologenteams, das eine für die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, das andere für das Ministerium des Innern, mit Skinheads und anderen faschistischen Gruppen. Die soziologische Analyse dürfte jedoch ebenso wie die publizistische Darstellung des neuen Faschismus in der DDR erschwert werden durch nahezu perfekt funktionierende Selbstschutzmechanismen. Das Wissen, daß schon das bloße Äußern faschistischer Ideen und Ideale strafwürdig ist, und die strengste Kontrolle durch die Gruppe und ihren Führer macht es fast unmöglich, authentische, gar programmatische Aussagen zu erhalten: „Wir sind keine Selbstanzeiger“. Das Verschleiern der faschistischen Überzeugung auch gegenüber Vernehmern und Untersuchungsrichtern wird offensichtlich trainiert; sie selbst nennen bezeichnenderweise die Untersuchungshaft ihre „Akademie“.

Faschisten auf dem Vormarsch
Zu Beginn der achtziger Jahre gab es in der DDR nur vereinzelt Skinheads. Sie ließen zwar auf ein gewisses rechtes Potential schließen, das aber noch amorph und unorganisiert war. Eine ideologische Konzeption war zu jener Zeit nicht erkennbar, Aktionen und Gewalttaten schienen spontan zu sein. Man mußte annehmen, daß die Skinheads eine unter vielen anderen jugendkulturellen Strömungen seien, die zu jener Zeit entstanden waren, und daß sie als Mode irgendwann von selbst verschwinden würden. Es schien undenkbar, daß junge, hierzulande erzogene Menschen zu neuen Trägern faschistischen Gedankengutes werden könnten. Ich selbst habe mich noch vor zwei Jahren in diesem Sinne geäußert.
Ungefähr seit 1983 scheinen sich die neuen Faschisten dann organisiert zu haben. Zuerst sind solche rechten Gruppen in den Fußballstadien in Erscheinung getreten; hier verlief die Entwicklung bei uns ähnlich wie in anderen Ländern. Blieb es zunächst bei scheinbar unpolitischen Randalen und Prügeleien, zumeist unter dem Einfluß von Alkohol, so gehört es inzwischen durchaus zum Fußballalltag in der DDR, daß Gewalttaten mit rassistischen und antisemitischen Beschimpfungen gepaart sind. Auch im irrationalen Haß zwischen Sachsen und Berlinern, der eigentlich immer nur belächelt wird, manifestiert sich faschistische Ideologie. Ein vorläufiger trauriger Höhepunkt war das Spiel zwischen Lok Leipzig und Union Berlin am 23. April 1988 in Leipzig, bei dem die Volkspolizei mit Gummigeschossen gegen die verfeindeten „Fans“ vorgehen mußte.
Neben den durch ihr martialisches Äußere auffälligen Skinheads gibt es eine zweite, wie ich meine, gefährlichere Gruppierung: die Faschos. Sie sind die eigentlichen Träger der faschistischen Ideologie. Nach außen hin geben sie sich unauffällig, erscheinen angepaßt, sind gute Arbeiter. Insgeheim aber basteln sie in geschlossenen Zirkeln an ihrer altneuen Weltanschauung. Von diesen Entwicklungen sind die Verantwortlichen in Staat und Partei wohl überrannt worden. Waren sie zu Beginn der achtziger Jahre zu sehr damit beschäftigt, gegen die gewaltfreien Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen ins Feld zu ziehen? Hat sich auch der sozialistische deutsche Staat als auf dem rechten Auge blind, zumindest aber sehschwach erwiesen? Als am 29. Mai 1985 das DDR-Fernsehen das Massaker im Brüsseler Heysel-Stadion live übertrug, habe ich telefonisch zuerst den Sendeleiter in Adlershof, dann den Chef vom Dienst im Zentralkomitee der SED aufgefordert, die Sendung abzubrechen. Die Antwort war: Wir werden weiter übertragen. Unsere Menschen sollen sehen, was im Kapitalismus möglich ist.
Ähnlich argumentiert Thomas Heubner in seinem Buch „Die Rebellion der Betrogenen“ (nl konkret 67, Berlin 1985, S. 167 ff.). Auch noch in der neusten Auflage (1988) delegiert er das Problem ausschließlich an den Westen: „Die Skinheads sind in ihrem Denken und Handeln nur ein Spiegelbild der kapitalistischen Gesellschaft.“ Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen! Anfang 1988 schätzte man die Anzahl der in faschistischen Gruppen organisierten jungen Leute in der DDR auf ungefähr eintausend. Ab 1986 hatten die Skinheads begonnen, die als links und proletarisch geltenden Punks zu terrorisieren. Inzwischen ist die Punk-Szene bei uns so gut wie ausgelöscht; einige sind zu den Rechten abgewandert. Andere „Bunte“, Gruftis, Ausländer, Farbige, Mitglieder gewaltfreier alternativer Gruppen, sind die neuen Opfer der Faschisten. Von 1983 bis 1987 sind ihre Gewalt- und Straftaten ums Fünffache gestiegen, aufgeklärt und verfolgt werden konnte nur ein geringer Teil.
Inzwischen muß das „Potential politisch motivierter Gewaltbereitschaft“ viel höher eingeschätzt werden; die Faschisten haben Zulauf. An den Berufsschulen rechnet man mit zwei bis drei Rechtsradikalen pro Klasse, große territoriale Unterschiede soll es nicht geben. Der größte Teil, etwa dreiviertel, rekrutiert sich aus den Jahrgängen 1962 bis 1970. Älter als sechsundzwanzig Jahre sind nur wenige. Auf Vierzehn- und Fünfzehnjährige hingegen übt die rechte Szene eine starke Anziehungskraft aus.
Unter den neuen Faschisten finden sich sowohl Arbeiterkinder wie Söhne und Töchter aus intellektuellen und bürgerlichen Familien. Skinheads sind häufig proletarischer Herkunft oder Jungarbeiter. Die faschistischen Gruppierungen sind, anders als die übrigen informellen Gruppen, in denen junge Männer und Frauen numerisch ausgewogen vertreten sind, maskulin dominiert; Mädchen und junge Frauen machen weniger als ein Fünftel unter den rechtsradikalen Jugendlichen aus. In der Regel sind die der rechten Szene zuzurechnenden jungen Männer und Frauen alleinstehend, sie heiraten, soweit dies gegenwärtig zu erkennen ist, überdurchschnittlich spät. Die entscheidende Frage, ob solche soziotypischen Merkmale zufällig entstehen oder Bestandteile eines Programms sind, ist gegenwärtig kaum zu beantworten.

Das Programm der neuen Rechten
Wer Skinheads und Faschos lediglich als prügelnden randalierenden Mob betrachtet, als eine Horde haltloser und von westlichen Idolen verführter Krimineller, für den stellt sich die Frage nach einem politischen Programm natürlich nicht. Das aber, der historische Vergleich drängt sich auf, war schon einmal in der deutschen Geschichte der verhängnisvollste Irrtum der Linken wie des Bürgertums. Heute, so scheint mir, ist es für viele Antifaschisten der ersten und zweiten Generation geradezu zum Glaubensbekenntnis geworden, daß der Aufbau der neuen Gesellschaft und eine vierzigjährige antifaschistische Erziehung, die es ja zweifellos gegeben hat, einfach nicht vergebens gewesen sein können; sie verdrängen jeden Gedanken an eine neue faschistische Gefahr in unserem Land. Es ist undenkbar für sie, daß junge Deutsche, die vom schrecklichen nationalsozialistischen Terror und von den faschistischen Massenmorden wissen, erneut dem Wahn der Rechtsideologie verfallen könnten.
Was überhaupt weiß man über die Gedankenwelt der neuen Faschisten bei uns im Land, der Skinheads und Faschos? Beiden Gruppierungen gemeinsam ist, daß sie ihre Identität aus dem Prinzip Gewalt beziehen. Nicht Demokratie oder gar Gewaltfreiheit, nicht die Ideale der französischen Revolution, nicht die des Sozialismus oder des Christentums werden als gesellschaftstragende Werte verstanden, sondern allein das Recht des Starken, des Herrenmenschen. Und das ist durchaus in politischen Dimensionen, nicht nur für die Gruppe oder die Gemeinschaft Gleichgesinnter gemeint. Deutlicher als die Skinheads beziehen sich die Faschos auf nationalsozialistisches Gedankengut. Hitlers „Mein Kampf“, so ist zu hören, kursiert unter den neuen Rechten in der DDR. Aber auch aus antifaschistischen Schriften und Darstellungen bezieht man, unter ganz anderem Vorzeichen, Material für die ideologischer Schulung.
Skinheads und Faschos gemeinsam ist die Ablehnung des sozialistischen deutschen Staates, bei den Faschos sind auch Vorbehalte gegen die westdeutsche Demokratie auszumachen. „Wir treten ein für ein vereinigtes Deutschland. Die ganze Linke, das kotzt einen ja an in diesem Scheißstaat“. „Rechtsradikal sein heißt, konsequent einzutreten gegen diese totalen Phrasenschreier, gegen die ganzen Jasager. Wir sind keine Jasager, wir stehen zu unserer Meinung.“ Die Faschos wollen die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1938. Sie lehnen es konsequent ab, aus der DDR auszureisen; hier, in der Beseitigung der sozialistischen Gesellschaft und im Kampf um ein vereintes Großdeutschland sehen sie ihr Wirkungsfeld. Bei den Skinheads ist eine solche politische Motivierung weniger deutlich ausgeprägt; die Haltung in dieser Frage dürfte beim anstehenden Differenzierungsprozeß innerhalb der neuen Rechten maßgeblich sein.
In Ansätzen sind auch „außenpolitische“ Aktivitäten der neuen Faschisten zu erkennen. Konsequenterweise richtet sich ihr Haß gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die den faschistischen Staat zerschlagen haben. Bekannt ist eine rege Reisetätigkeit in die sozialistischen Nachbarländer; zur ungarischen, tschechoslowakischen, baltischen und ukrainischen rechten Szene scheint es Beziehungen zu geben. Manches spricht dafür, daß es auch ideologische Übereinstimmungen und eine gemeinsame Logistik gibt, zum Beispiel zur Beschaffung von Propagandamaterial, Wehrsportausrüstungen und Waffen.
Daß es auch Kontakte zu den Skinheads in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Ländern gibt, ist bekannt; Verbindungen zum politischen Neofaschismus in Westdeutschland sind zu vermuten. Ich meine aber, daß die Intensität dieser Kontakte, wohl infolge der offiziellen SED-Argumentation, eher überschätzt wird. Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR, das ist meine feste Überzeugung, sind jedenfalls nicht im Westen zu suchen, sondern haben hier „überwintert“ oder sind hier großgeworden.
In jüngster Zeit bildet sich bei den Faschos ein ausgesprochener Antiamerikanismus aus; die Rechten brauchen neue Feindbilder. Antisemitismus und Rassismus sind latent vorhanden; es gehört nicht viel Weitsicht dazu, um für die nahe Zukunft antisemitische Aktionen und Schmierereien vorauszusehen. Auf den Fußballplätzen, in den Kneipen der rechten Szene sind antisemitische Sprüche und Witze ohnehin an der Tagesordnung. Zu glauben, daß in der DDR die Wurzeln des Antisemitismus ein für allemal ausgerottet sind, wie das in diesem Herbst so oft zu hören war, ist reines Wunschdenken. Wenn in Arbeits- und Schulkollektiven antisemitische Äußerungen als harmlose Verirrung abgetan werden, wenn der §220 (2) StGB, die Verfolgung öffentlicher Äußerungen militaristischen und faschistischen Inhalts, eher zögernd zur Anwendung kommt, so ermuntert und bestärkt das nur die neuen Rechten.

Die Werte der neuen Rechten
In Arbeits- und Ausbildungskollektiven erfreut sich der Rechtsradikalismus ohnehin einer zunehmenden Akzeptanz. Die antifaschistische Abwehrfront in der Bevölkerung, so ein Insider, bröckelt ab. Das hängt ganz sicher mit den Werten zusammen, die von den Faschos propagiert werden. Dem unpolitischen Betrachter, dem Kleinbürger zumal, erscheinen sie offenbar als arbeitssame, ordentliche, disziplinierte junge Mitbürger, die nicht einfach in den Tag hinein gammeln, sondern wissen, wofür sie leben.
In der Tat wendet sich die neue Rechte vehement gegen die ansonsten recht verbreitete Null-Bock-Ideologie, gegen Ausreiser und Aussteiger, gegen eine gewisse Larmoyanz und Resignation mancher alternativer Gruppen. „Der Großteil der Jugend hier hat keine Vorbilder, die leben in den Tag hinein, haben bloß Kniff im Kopp. Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, haben sie nicht“ so ein Skinhead aus dem Prenzlauer Berg. Anders die neuen Rechten: Sie sind stolz darauf, etwas zu wollen, ein Lebensziel, Ideale zu haben. Sie verabscheuen jede Form von Anarchie, lassen sich nicht hängen. Körperliche Ertüchtigung und gesunde Lebensführung gehören zum politischen Programm, in der Regel sind sie körperlich hervorragend trainiert: „Wir sind die Elite der deutschen Jugend“. In dieses Bild paßt die gegenwärtig zu beobachtende Abkehr vom Alkohol bei einem Teil der rechten Szene. Andere bestimmende Werte und auch hier sind die historischen Vorbilder unschwer auszumachen, sind Persönlichkeitskult und Kameradschaftsgeist. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften erzieht man sich gegenseitig zur unbedingten Gläubigkeit an die Idee und an die Idole. Ein Elitebewußtsein, ein gewisses rechtes Selbstwertgefühl wird in diesen Zirkeln regelrecht antrainiert. Jedes Gruppenmitglied hat sich dabei bestimmten Bewährungsritualen zu unterziehen, durch die die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt bewiesen und stimuliert und moralische Hemmungen allmählich abgebaut werden. Feige, hinterhältige Angriffe auf völlig Unbeteiligte sind dabei als „Mutprobe“ üblich. An den Wochenenden sollen manche Cliquen sich zu regelrechten „Wehrertüchtigungscamps“ treffen oder paramilitärische Übungen durchführen.
Nicht zufällig werden soldatische Werte kultiviert, Disziplin, Gehorsam, Ausdauer, Verläßlichkeit; insbesondere wird der Kameradschaftsgeist der faschistischen Wehrmacht beschworen. Man versucht, die rechte Ideologie an Soldaten der Nationalen Volksarmee heranzutragen und sucht unter ihnen Verbündete. Ob die faschistischen, verdeckt operierenden Propagandisten unter den Wehrdienstleistenden Zuspruch haben, ist schwer zu beurteilen; ausschließen kann man es sicher nicht. In bestimmten Einheiten jedenfalls, zum Beispiel bei den Fallschirmjägern, sollen ehemalige Skinheads besonders häufig anzutreffen sein. Zum rechten Persönlichkeitskult schließlich gehört, daß verurteilte Gewalttäter zu Helden hochstilisiert werden. „Kamerad“ Ronny Busse zum Beispiel, einer der Schläger beim Überfall auf die Zionskirche, wird in der Szene geradezu verehrt. Es ist zu fürchten, daß ohne sozialtherapeutisches Programm für viele die Haft tatsächlich zu einer „Akademie“ wird, in der sich ihre Anschauungen festigen und ihr Selbstwertgefühl aufgebaut wird. Für die Faschos und Skinheads draußen sind die Verurteilten willkommene „Märtyrer der Bewegung“. Das wiederum könnte nur dann verhindert werden, wenn man die ganze Feigheit und Erbärmlichkeit dieser neuen „Kameraden“, die Frauen und Mädchen und friedfertige Mitbürger zusammengeschlagen haben, wirklich öffentlich macht und sich auch die schmerzlichen Details nicht erspart.

Die Logistik der neuen Rechten
Ist es noch relativ einfach, bestimmende Charakteristika und gemeinsame Wertvorstellungen für die unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Gruppierungen zusammenzutragen, so ist der Nachweis von Führungsstrukturen und -mechanismen fast unmöglich. Da alle neuen faschistischen Gruppen streng nach konspirativen Regeln operieren, gibt es dafür keine direkten Indizien, zumindest sind mir solche nicht bekannt. Vor Vernehmern und Richtern wird eher versucht, derartige Zusammenhänge zu leugnen, zu verschleiern oder herunterzuspielen. Indirekt verweist jedoch die Logistik der Faschos und Skinheads auf zentrale und ideologisch untermauerte Führungsorgane; letztlich aber muß das Hypothese bleiben.
Die rechten Cliquen sind in der Regel zehn bis vierzehn Mann stark, das ist eine auch von den Soziologen als ideal angesehene Gruppenstärke. Derartige Kleingruppen sind in der Lage, sich nach außen hin total abzuschirmen und jeden unerwünschten Informationsfluß aus der Gruppe heraus zu unterbinden. Wird eine bestimmte Mitgliederzahl überschritten, trennt sich die Gruppe auf. Die Führer setzen sich durch ihre starke Persönlichkeit durch, demokratische Wahlmodalitäten sind nicht üblich. Der einmal akzeptierten Autorität wird bedingungslos Gefolgschaft geleistet. Gruppenführer zeichnen sich in der Regel durch überdurchschnittliche Intelligenz, durch eine starke Persönlichkeit, durch den Willen zu Macht und Gehorsam aus. Sie verfügen über ein Elitewissen, das auf übergeordnete Autoritäten schließen läßt. In einzelnen Fällen waren fünfzehnjährige Kinder die Anführer von Gefolgschaften älterer Jugendlicher.
Auch manche abgestimmt und gleichzeitig verlaufende Aktion und Aktivität der neuen Rechten deutet auf ein ideologisches Konzept und eine gruppenübergreifende Logistik hin. Dazu gehört der Mitte der achtziger Jahre massiv unternommene Versuch, junge Faschisten in Wehrsportgruppen der GST und in Ordnungsgruppen der FDJ einzuschleusen. Es heißt, daß sie dabei nach einem durchdachten Konzept vorgingen und nicht selten erfolgreich waren. Inzwischen ist diese Taktik erkannt und greift nicht mehr. Gegenwärtig versucht man, sich unauffällig zu machen und auf das martialische Äußere zu verzichten. Auch eingeschworene Skinheads lassen sich in diesem Herbst die Haare wachsen und haben die Uniform an den Nagel gehängt, und das landesweit – ein bloßer Zufall? Verbunden ist das Streben um ein neues bürgerfreundliches und angepaßteres Images mit der Kampfansage an den Alkohol. Bei Schlägereien ist es üblich geworden, den Nachwuchs zum Provozieren vorzuschicken, selbst aber nur mal kurz „hinzulangen“ und schnell wieder zu verschwinden.

Die braune Stafette
Zahlreiche Traditionslinien, das dürfte deutlich geworden sein, verbinden die neuen Rechten mit dem deutschen Nationalsozialismus. Wie konnte die schreckliche Saat in der Mitte der achtziger Jahre, in einem antifaschistisch tradierten Staat, in einer sozialistischen Gesellschaft erneut auf so fruchtbaren Boden fallen?
Sind doch bei uns faschistische Täter und Mitläufer konsequenter bestraft und geächtet worden als im anderen Deutschland. Bis Mitte der siebziger Jahre wurden 12876 Naziverbrecher rechtskräftig verurteilt. Seitdem hat es Jahr für Jahr weitere Prozesse gegeben. Die jüngste Verurteilung eines Naziverbrechers, die mir bekannt ist, erfolgte im Juli 1988 in Halle. Antifaschismus ist in der DDR Verfassungsauftrag und Staatspolitik.
Das alles aber sagt nichts über den psychologischen, den moralischen Zustand der Deutschen in diesem Lande aus. Viele, die Hitler 1933 zugejubelt haben oder die als schweigende Mehrheit den Krieg und die faschistischen Verbrechen mitgetragen haben, sind 1945 nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht wirklich umgekehrt. Manche, sie haben oft wohl am lautesten „mea culpa“ geschrien, haben zwar Fahnen und Uniformen und Parteibücher gewechselt, sind im Innern aber die alten geblieben. Für die meisten aber, für all die Mitläufer und Stillschweiger, mag die Erkenntnis, zwölf Jahre lang von Verbrechern verführt und mißbraucht worden zu sein, so schrecklich und so unerträglich gewesen sein, daß sie einfach verdrängt wurde. Das übermenschliche Maß der Schuld wie der Scham hat eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erschwert.
Weder von den Kirchen noch von der Gesellschaft wurde das erkannt. Sie haben den im Dritten Reich schuldig Gewordenen nicht wirklich die Möglichkeit zum öffentlichen Bekenntnis, zur öffentlichen Diskussion ihres Handelns und Unterlassens eingeräumt. Die Verbrecher wurden bestraft. Die Millionen Mitläufer aber und alle, die durch schweigende Zustimmung schuldig geworden waren, blieben weiter zum Schweigen verurteilt. Ihnen wurde die Gnade der Reue verweigert. Die Deutschen in diesem Land sind zu schnell zur Tagesordnung der neuen Ordnung übergegangen.
Behindert wurden Scham und Reue auch dadurch, daß viele Antifaschisten, unter ihnen besonders die Kommunisten, für sich eine übermenschliche Reinheit und Edelmenschlichkeit beanspruchten. Dem lauthals verkündeten humanistischen Anspruch aber stand alsbald der stalinistische Terror der Nachkriegsjahre entgegen. Das diskreditierte gerade bei den sich schuldig wissenden Proselyten den antifaschistischen Staat und die antifaschistische Idee. Alle Fehler, alle Mängel dieses Staates und dieser Gesellschaft wurden Argumente für die eigene moralische Überlegenheit und führten zur erneuten Hinwendung zum Faschismus. Die latente Bereitschaft zur Umkehr schlug um in einen neuen, jedoch in der tiefsten Seele gehaltenen Fanatismus.
Diese rückbekehrten Faschisten lebten vierzig Jahre lang nach außen hin angepaßt, als politisch indifferente oder sich sozialistisch gebärdende Bürger. Sie sind es, denke ich, die geduldig auf ihre Stunde gewartet und nun an ihre Enkel den braunen Stafettenstab weitergereicht haben. Sie, die unauffällig sind und harmlos scheinen, die schwer zu packen sind, halten die Fäden in der Hand; nicht jene Handvoll früherer SS-Leute und Parteibonzen, die hier und da unter falschem Namen oder mit gefälschten Papieren untergekrochen sein mögen.
Das alles, es ist mir bewußt, ist Hypothese. Vielleicht ist alles viel einfacher. Vielleicht gibt es wirklich Familien, in denen die faschistische Idee offen und ungebrochen gelebt und ein faschistisches Elitebewußtsein gezüchtet wurde. Vielleicht sind es die Witwen der Gehenkten, die an die Söhne und Enkel das Vermächtnis der Männer weitergereicht haben. Vielleicht sind auch nur die Mauern um unser Land oder um die Gefängnisse durchlässiger, als wir es uns denken können.

Die Last der Gegenwart
All das aber erklärt nicht den Zulauf, den die Rechten gegenwärtig haben. Das ist, denke ich, allein aus der Gegenwart heraus zu erklären. Faschistische Traditionslinien, personelle wie strukturelle, finden sich auch im sozialistischen Staat. Selbst bei denen, die eine ehrliche Umkehr vollzogen haben, blieben im Unter- und Unbewußten Spuren des Dritten Reiches. Vieles an unserer Alltagssprache verrät das. Unsere Alltagskultur wurde nicht völlig entnazifiziert: Nicht das Individuum, das Einmalige steht zuoberst auf der Werteskala, sondern die Masse, das Allgemeine. Nicht Originalität und Innovation haben den höchsten Stellenwert, sondern Unterordnung und Konvention. Nicht Widerspruch und Kritik sind wirklich geschätzt, sondern Anpassung und Duckmäusertum.
Das kleinere Deutschland hatte nie die Chance, die demokratischen Traditionen der 1848er Revolution oder die der Weimarer Republik aufzugreifen und fortzuführen; ihm wurde eine proletarische Diktatur stalinistischer Prägung aufgezwungen. Die antifaschistisch-demokratische Gesellschaftsstruktur hat nicht wirklich alle Lebensbereiche durchdrungen; oft genug ist sie Entwurf geblieben. Die kommunistische Kaderpartei beförderte nicht die Entwicklung demokratischer Tugenden, sondern schuf ein System neuer Privilegien zur Belohnung von Maulheldentum, Untertanengeist und Parteidisziplin. Das Führerprinzip, das sich für die Deutschen als verhängnisvoll erwiesen hatte, erlebte unter anderem Vorzeichen eine Renaissance: erst der Stalinkult, dann der unbedingte Anspruch der kommunistischen Partei, Avantgarde und Vorhut zu sein. Eine basisdemokratische Kontrolle der Mächtigen und ihrer Organe gab es nicht und wird bis heute nicht geduldet.
Auch die sozialistische Gesellschaft nimmt für sich das Prinzip der Gewalt in Anspruch, anerkennt und praktiziert es. Immer wieder wurden und werden Konflikte gewaltsam gelöst: Kritiker wurden ausgebürgert, Andersdenkende eingesperrt, Bücher und Zeitungen verboten. Gewalt, im Klassenkampf ausgeübt, gilt als hoher moralischer Wert. Gewalt gegen ungeborenes Leben wird gesellschaftlich sanktioniert. Die Mauer endlich ist die vollendete Materialisierung des Prinzips Gewalt. Gewaltfreiheit und Pazifismus andererseits werden von der sozialistischen Gesellschaft nicht geschätzt, bestenfalls geduldet.
All das ist nicht Faschismus. Aber die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur haben den Propagandisten der neuen faschistischen Bewegung ein leicht zu beackerndes Feld bereitet. Menschen, die hierzulande aufgewachsen und in unseren Schulen erzogen sind, sind ungenügend gegen den Bazillus radikaler Ideologien immunisiert. Hinzu kommt, daß seit mehr als einem halben Jahrhundert das Nationalgefühl der Deutschen gestört ist. Nach dem krankhaften Nationalismus in den erste Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wurden unter dem Eindruck der deutschen Teilung alle nationalen Gedanken und Gefühle künstlich unterdrückt. Viele Jahre lang war es eher eine Schande, ein Deutscher zu sein. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein wurde das Wort Deutschland krampfhaft gemieden; der schöne Text unserer antifaschistischen Nationalhymne wird deshalb bis heute nicht gesungen. Patriotismus sollte durch Internationalismus ersetzt werden – wie aber kann ich Internationalist sein, wenn mir die nationale Identität fehlt! Die künstliche Konstruktion einer „sozialistischen Nation“, aus tagespolitischem Kalkül heraus geschaffen, ist von den Deutschen in der DDR niemals wirklich angenommen worden. Schlägt nun das unterdrückte, verdrängte Nationalgefühl um in einen extremen Nationalismus? Die Geschichte bietet dafür mehr als nur ein Analogon…
Die Hinwendung einer großen Anzahl, wohl der Mehrzahl der Deutschen in der DDR zu kleinbürgerlichen Werten und Lebensformen, der so augenfällige Rückzug in private Nischen, die Flucht aus dem gesellschaftlichen ins private Sein haben gleichfalls die Anfälligkeit für faschistische Gedanken erhöht. Niemand verkraftet auf die Dauer eine solche Doppelzüngigkeit, ein solches Doppeldasein, wie sie sich hierzulande breitgemacht haben. Die allabendliche Massenemigration per Fernseher ist deutlicher noch als die Ausreisewelle ein Indiz für ein gespaltenes gesellschaftliches Bewußtsein. Ein Gemeinwesen, dessen Bürger dauernd etwas anderes sagen als sie denken, die dauernd etwas anderes tun, als sie wollen, die etwas anderes scheinen als sie sind ist krank und geschwächt und empfänglich für Radikalismen jeder Art.
Junge Menschen, die in unserem Land aufwachsen, sind von Kindheit an diesen sozialen Defekten ausgesetzt. Unser Bildungssystem unterstützt die unreflektierte Übernahme kränkender Verhaltensmuster aus Familien und Kleingruppen: Fast regelmäßig werden nicht Kritik und eigenes Denken gefördert und belohnt, sondern Nachplappern und Angepaßtsein. Junge Menschen, die alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle durchdenken und erproben wollen, müssen erfahren, daß sie als staatsgefährdend angesehen und behandelt werden. Die Erziehung ist intellektualisiert, die Seele, die Gefühle werden nur ungenügend gebildet. Häufig ist in der Schule die Auseinandersetzung mit der Geschichte unsinnlich und dogmatisch verklemmt, die Gesellschaftslehre wird kalt und leidenschaftslos vermittelt, eine gebetsmühlenartige Wiederholung soll die kritische Aneignung ersetzen.
„Die Verarmung und Verirrung des Gefühlslebens, Kaltschnäuzigkeit und Brutalisierung, der Abbau des Gefühls für das Schöne bereiten ein Vorfeld für Faschismus. Der Faschismus vernichtet den ganzen Menschen, seine ganze Humanität. Deshalb müssen wir den ganzen Menschen gegen dieses Gift widerstandsfähig machen. Dafür reicht die nackte Information, das bloße Wissen nicht aus.“ Diese Mahnung Konrad Wolfs, 1979 ausgesprochen, scheint, wie manches andere, bei den verantwortlichen Jugend- und Bildungspolitikern ungehört verhallt zu sein. Ein „emotionaler Nährboden für aktiven Antifaschismus“ (Konrad Wolf) sind die meisten Schulen bei uns jedenfalls nicht. Antifaschistische Kampagnen und Demonstrationen können die mühevolle stete Arbeit einer humanistischen Bildung der Herzen und Hirne nicht ersetzen.

Gewalt und Gegengewalt
Wir müssen begreifen, so schmerzlich es auch sein mag: Diese jungen Faschisten sind das Produkt unserer Gesellschaft; es sind unsere Kinder. Wir dürfen sie nicht, nicht einen, verloren geben. Wir haben uns vor Vorurteilen zu hüten, wie oft sind Vorurteile der erste Schritt zur Verurteilung. Selbstverständlich kann es nach allem, was die Nationalsozialisten der Welt und Deutschland angetan haben, keine Toleranz für faschistische Anschauungen und Taten geben. Barmherzigkeit, Wärme und Gesprächsbereitschaft aber sind wir auch den schlimmsten Tätern schuldig.
Das Bemühen des Staates, den neuen Faschismus einzudämmen, erscheint hilflos und wenig wirkungsvoll: Gegengewalt wird anscheinend als Allheilmittel angesehen. Viele Maßnahmen sind überzogen und treffen nicht selten die Falschen; manchmal mögen junge Menschen erst durch übertriebene und gewaltbetonte Reaktion der Staatsmacht in die Arme der Rechten getrieben worden sein. Jugendliche mit geschorenem Kopf und gar in Skinhead-Kluft, auch reine Mode-Skins, haben es schwer, werden bevormundet und gegängelt. Zu Discos und Jugendclubs haben sie kaum noch Zutritt. Selbst völlig friedfertige Jugendliche werden auf der Straße von der Volkspolizei kontrolliert – nur, weil sie ein wenig ungewöhnlich gekleidet sind oder sich vielleicht etwas temperamentvoller äußern. Wenn sich, das gilt zumindest für größere Städte, ein Club oder eine Gaststätte zum Treffpunkt solcher Cliquen entwickelt hat, werden sie häufig unter einem Vorwand, aus „technischen Gründen“ oder wegen einer plötzlich notwendig werdenden Renovierung, geschlossen. Die Gruppen suchen sich woanders einen neuen Treffpunkt; das Problem wird von einem Stadtbezirk zum anderen geschoben.
Die Ordnungsgruppen der FDJ bringen gleichfalls Probleme mit sich. Denn offenbar gibt es unter den Ordnern auch solche, die die ihnen übertragene Macht gegen ihre Altersgenossen mißbrauchen und anstelle von Argumenten die Fäuste sprechen lassen. Eine sorgfältige und verantwortungsvolle Auswahl, eine psychologische Schulung sollten selbstverständlich sein. Die ständige Kontrolle ist notwendig, auch geringste Übergriffe müssen geahndet werden. Denn überzogene Reaktionen von Ordnungskräften und Polizisten können Aggressivität und Widerstand erst provozieren; manche Verurteilung wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt indizieren das jedenfalls.
Eine öffentliche demokratische Kontrolle der machtstützenden Organe – der Polizei, der Justiz, des Strafvollzugs, des Staatssicherheitsdienstes – würde gerade jungen Bürgern mehr Rechtssicherheit und Vertrauen geben und Aggressionen abbauen. Die gegenwärtige Eingabenpraxis, undurchschaubar und ohne Begründungs-pflicht, ist ganz und gar unbefriedigend und leistet dem Mißbrauch von Macht Vorschub. Strafgesetzgebung und Strafvollzug schließlich, das ist selbst für den Laien offensichtlich, bedürfen dringend der Revision. Wenn überhaupt, wird wohl nur ein humanistisches sozial- und psychotherapeutisches Programm junge rechtsradikale Straftäter zum Nach- und vielleicht Umdenken bringen können, nicht aber der unwürdige sinnleere Alltag einer langjährigen Haft.
Viele der verurteilten Skinheads sind in geordneten Verhältnissen, in „guten Familien“ großgeworden, waren gute Schüler und Arbeiter. Zuweilen kamen sie aus Familien mit antifaschistischer Tradition, waren die Eltern Funktionäre; selbst Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes haben ihre Kinder an die neuen Faschisten verloren. Der Gedanke liegt nahe, daß es manch einem, der in die rechte Szene hineingeraten ist, zu Hause an Wärme und Verständnis gefehlt hat, daß er autoritär erzogen wurde oder daß ihn die Eltern ihre Werte und Weltanschauungen nicht vorgelebt, sondern eingebleut haben. Der besonders für junge Menschen legitime und für ihre gesunde Entwicklung doch unerläßliche Zweifel an allen Autoritäten, ihre gesunde Opposition mag nicht selten mit den antiquierten Mitteln der „schwarzen Pädagogik“, mit psychischer und physischer Gewalt gebrochen worden sein. Das wurde der Nährboden für den Haß auf alle Autoritäten. Und die Kinder wußten nur zu gut, daß sie gerade durch ihre Hinwendung zum Faschismus den Eltern, den gesellschaftlichen und staatlichen Autoritäten, den allerheftigsten Schmerz zufügen würden. Wieviel Trauerarbeit haben sie und wir alle zu leisten, um diese Flut von Haß und Schmerz zu integrieren!

Alternativen
Die Gefahr einer neuen faschistischen Bewegung, getragen von jungen Menschen unseres Landes, ist denkbar geworden. Es ist für uns alle eine Herausforderung. Jeder hat sich selbst zuerst die bitteren Fragen zu stellen, jeder wird eigenes Versäumen und Versagen zu bedenken haben. Staat und Kirche, Schule und Jugendorganisation müssen, jeder für sich, fragen, was sie unterlassen und worin sie gefehlt haben, wenn Zwanzigjährige in unserem Land wieder „Sieg Heil“ und „Juden raus“ brüllen.
Ich fürchte, wir werden auf absehbare Zeit mit einem gewissen rechten „Potential politisch motivierter Gewalttätigkeit“ leben müssen. Staatliche Gegengewalt ist kein taugliches Therapeutikum. Es wird darauf ankommen, dem Rechtsradikalismus die schillernde Verführungskraft zu nehmen und junge Menschen humanistische Alternativen zu bieten. Das ist, nach meiner festen Überzeugung, nur durch die konsequente demokratische Umgestaltung unserer Gesellschaft und durch die Absage an die Gewalt als gesellschaftsbildende Kraft zu erreichen. Ein gewaltfreier sozialer Dienst anstelle der Militärpflicht sollte endlich möglich werden. Wir müssen lernen, auf Gewalt auch gegenüber dem ungeborenen Leben und gegenüber der Natur zu verzichten.
Eine neue Kultur des öffentlichen Dialogs muß erworben und gepflegt werden; unser Land braucht Gedanken- und Pressefreiheit und ein Spektrum unzensierter Medien. Für junge Menschen muß es eine rechtliche und soziale Basis geben, um alternative demokratische Lebensmodelle, zum Beispiel nach dem Vorbild der israelischen Kibbuzim zu erproben. Nur wahrhafte Demokratie kann auf Dauer die Jugend unseres Landes gegen faschistisches Gedankengut immunisieren.

Prozesse gegen Skinheads in der DDR

Von Ende November 1987 bis Anfang Juli 1988 haben in der DDR mindestens neun Prozesse gegen Nazis-Skinheads und Neofaschisten vor Kreisgerichten (bzw. in einem Fall in zweiter Instanz vor einem Bezirksgericht) stattgefunden, in denen 49 Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren wegen zahlreicher Gewaltakte und auch wegen Handlungen mit rechtsradikalem Hintergrund abgeurteilt wurden. Der erste dieser Prozesse führte am 4. Dezember 1987 zur Verurteilung von vier Skinheads, die sich an den Gewalttätigkeiten gegen Besucher der Zions-Kirche in Ost-Berlin am 17. Oktober 1987 beteiligt hatten, durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte zu Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren, die auf den Protest der Staatsanwaltschaft am 22. Dezember vom Stadtgericht Berlin auf zwei bis vier Jahre erhöht wurden. Im Dezember 1987, nach dem ersten Prozeß vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, kündigte der Generalstaatsanwalt der DDR acht weitere Prozesse gegen Skinheads an.

In der Zeit von Februar bis Juli 1988 wurden folgende Urteile gegen Skinheads verhängt (die Auflistung ist mit Sicherheit unvollständig):

* 3.2.1988: Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte gegen acht weitere Beteiligte an den Gewalttätigkeiten gegen Besucher der Zions-Kirche am 17.10.1987 (1¼ bis 1½ Jahre).
* 19.2. 1988: Urteil des Kreisgerichts Weißenfels gegen drei Personen (2 bis 5½ Jahre; rechtsradikaler politischer Hintergrund fraglich).
* 25.3.1988: Urteil des Kreisgerichts Dresden-Nord gegen vier Personen (1 bis 1½ Jahre).
* April 1988: Urteil des Kreisgerichts Halle gegen sieben Personen (5 bis 12 Monate; rechtsradikaler politischer Hintergrund fraglich).
* 11.5.1988: Urteil des Kreisgerichts Oranien-burg gegen neun Personen (1¾ bis 6½ Jahre).
* 1.6.1988: Urteil des Kreisgerichts Cottbus gegen acht Personen (1 Jahr 2 Monate bis 2 Jahre).
* 22.6.1988: Urteil des Kreisgerichts Dresden-Nord gegen eine Person (2 Jahre).
* 5.7.1988: Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Prenzlauer Berg gegen fünf Personen (2½ bis 6½ Jahre; diese Urteile gehören nicht zu den im Dezember 1987 angekündigten Strafverfahren, da die Verurteilten erst am 5. März 1988 verhaftet worden waren).

Insgesamt ergibt sich damit eine Zahl von mindestens 39 Verurteilten für die Zeit von Ende November 1987 bis Anfang Juli 1988, denen neben Gewalttätigkeiten und anderen gewöhnlichen Kriminaldelikten auch Bekundungen einer neonazistischen Gesinnung vorgeworfen wurden. In den von den DDR-Medien publizierten Gerichtsberichten über zwei Prozesse gegen weitere zehnVerurteilte (Kreisgerichte Weißenfels und Halle) wurde zwar der Begriff „Skin-head“ verwendet, von Delikten mit neonazistischem Hintergrund war dort aber nicht die Rede. Im November 1987 schätzten westliche Beobachter die Zahl der Skinheads in Ost-Berlin auf etwa hundert Personen, zu denen noch eine Gruppe in und um Dresden kommt (ebenfalls ca. hundert Personen). Eine erheblich höhere Zahl rechtsradikaler Jugendlicher nannte der Schriftsteller Rolf Schneider auf dem Kirchentag in Halle (23.-26. Juni 1988). Er behauptete , daß sich in der DDR 1500 junge Leute selbst als „Neonazis“ bezeichnen“; über die Quelle, aus der diese Zahl stammen soll und wie sie ermittelt wurde, war allerdings bisher nichts zu erfahren. Prozesse wegen „Rowdytums“ (§ 215 StGB der DDR) und Berichte darüber in den dortigen Medien sind in der DDR nicht allzu selten. Überwiegend wurde dabei gegen Täter wegen unpolitischer krimineller Delikte verhandelt. Gelegentlich allerdings kam diese Strafbestirnmung auch gegen Regimekritiker zur Anwendung, die mit Neonazismus nicht das geringste zu tun haben, denen die Strafverfolgungsorgane angeblich illegale Demonstrationen für Ausreise, Meinungsfreiheit usw. vorwarfen und die mit der Klassifizierung als „Rowdies“ kriminalisiert werden sollten (ein seit langer Zeit auch in der Sowjetunion übliches Verfahren, Regimekritiker als Kriminelle abzustempeln). Bis Ende November 1987 gab es – zumindest in den in der DDR veröffentlichten Gerichtsberichten – keine Hinweise auf irgendwelche rechtsradikalen Hintergründe der Delikte von Rowdies bzw. Skinheads. Vereinzelte antisemitische Friedhofsschändungen in der DDR sind in den siebziger Jahren bekanntgeworden (Zittau, Potsdam, Dresden).

Nachrichten über gelegentliche neonazistische Äußerungen von Jugendlichen in der DDR (rassistische Beschimpfungen und Bedrohungen, Hakenkreuzschmierereien, Judenwitze, Türkenwitze), aber auch über Überfälle von Skinheads auf Gruppen der unabhängigen Friedensbewegung und auf Umweltschützer gab es auch schon vor dem November 1987, allerdings niemals in den DDR-Medien. “ In den bekanntgewordenen Prozessen kamen u.a. die Paragraphen 212 (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen), 215 (Rowdytum) und 220 (öffentliche Herabwürdigung) des StGB zur Anwendung; der Strafrahmen reicht (sofern auch der schwere Fall nach § 216 vorliegt) bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Den Verurteilten wurden neben zahlreichen Delikten der gewöhnlichen Kriminalität (Körperverletzung, Diebstahl, Kfz-Diebstahl, Urkundenfälschung, Sachbeschädigung) rassistische Beschimpfungen, „Verbreitung faschistischen Gedankenguts“, das Abspielen von „verbotener Musik“ (möglicherweise Nazilieder und Militärmusik aus der NS-Zeit), der Hitler-Gruß, das Rufen faschistischer Parolen, das Zeigen faschistischer Symbole, die Schändung jüdischer Gräber (auf dem jüdischen Friedhof im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg) sowie Angriffe auf Volkspolizei-Angehörige vorgeworfen.

Die Sicherheitsorgane der DDR hatten die Umtriebe der Skinheads bis zum Spätherbst 1987 zunächst mit erstaunlicher Gelassenheit behandelt. Augenzeugen berichteten, Volkspolizisten hätten den Angriffen der Skinheads auf Besucher der Zions-Kirche am 17. Oktober 1987 zugesehen, ohne einzugreifen. In dem Prozeß vor dem Kreisgericht Oranienburg Mitte Mai 1988 gegen neun Mitglieder der „Skinhead-Gruppe Velten/Henningsdorf“ wurde bekannt, daß diese Gruppe das Umland von Berlin bis hin nach Potsdam während des ganzen Jahres 1987 mit Gewalttätigkeiten überzogen hatten. Nach der Verschärfung der relativ milden Strafen, die das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte am 4. Dezember 1987 verhängt hatte, durch das Stadtgericht Berlin am 22. Dezember schlug die DDR-Justiz eine deutlich härtere Gangart ein und verfuhr seitdem nach dem Grundsatz, „daß in der DDR derartige Ausschreitungen keinen Boden haben, auf das schärfste verurteilt und entsprechend der Rechtsordnung unseres Landes mit aller Konsequenz geahndet werdend“.

Wenn es um die Suche nach den Ursachen für das Phänomen der rechtsradikalen Skinheads in der DDR geht, wurde immer wieder von offizieller Seite erklärt, dieses Verhalten hätte in der Realität der DDR keine Wurzel und sei vielmehr von Skinheads aus West-Berlin und der Bundesrepublik hereingetragen worden (so z.B. der Anklagevertreter am 30. Juni vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Prenzlauer Berg). Diese Unterstellung, erweitert meist durch eine Schuldzuweisung an die westlichen elektronischen Medien, zieht sich durch sämtliche Gerichtsberichte und Kommentare in der DDR über diese Prozesse. Die Angriffe der Skinheads (nach einigen Berichten 25 bis 30, nach anderen bis zu 100) auf die Besucher der Zions-Kirche am 17. Oktober 1987 seien, so wurde im „Neues Deutschland behauptet, von 15 Skin-heads aus West-Berlin und deren Anführer angeheizt worden. Der Generalstaatsanwalt der DDR hat deshalb auch am 15. Februar 1988 ein Rechtshilfeersuchen an den Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht in West-Berlin gerichtet^; ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Beteiligte war in West-Berlin bereits Anfang Januar eingeleitet worden. Kirchliche Beobachter, z. B. der Ost-Berliner evangelische Stadtjugendpfarrer Hülsemann, räumten zwar Einflüsse aus dem Westen ein, machten für die Vorfalle aber auch Mängel im Erziehungswesen der DDR verantwortlich. Der Versuch, die westlichen Medien (z.B. vor allem das Fernsehen im Falle der Friedhofsschänder von Berlin-Prenzlauer Berg) für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen, ist insofern besonders bösartig, weil in einer Demokratie Nachrichten über rechtsradikale Umtriebe in den Medien aus guten Gründen nicht unterdrückt werden können. Wenn vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte Anfang Februar lang und breit die angebliche Rädelsführerrolle von Skinheads aus West-Berlin am 17. Oktober 1987 geschildert wurde, drängt sich die Frage auf, wie es denn im Oktober 1987 mit der Wachsamkeit der Kontrollorgane der DDR an der Berliner Sektorengrenze bestellt war oder ob die West-Berliner Skinheads gar damals maskiert als brave Biedermänner in den Ostteil der Stadt eingesickert sind.

Die DDR-Führung hat darüber hinaus versucht, die Skinheads mit Regimekritikern, Friedensgruppen, Ausreisewilligen usw., denen keinerlei rechtsradikale Handlungen oder Gesinnungen vorgeworfen werden können, unter dem Sammelbegriff „Feinde des Sozialismus“ in einen Topf zu werfen, um so die allgemeine Ablehnung gegen die Skinheads innerhalb und außerhalb der DDR auch gegen Regimekritiker und Ausreisewillige zu richten. In dieser Art und Weise argumentierten das Politbüro auf der 5. Plenartagung des ZK der SED am 16. Dezember 1987 und der Chefredakteur der FDJ-Zei-tung „JungeWelt“, Hans-Dieter Schutt. Auch zur Legitimierung des Grenzregimes der DDR müssen die Taten der Skinheads in Ost-Berlin und Umgebung herhalten, weil angeblich hier der Einfluß westlicher Skinheads gewirkt habe und künftig abgewehrt werden müsse. Dieser Einfluß, soweit vorhanden, beweist übrigens erneut, daß das Grenzregime der DDR in seiner heutigen Form nicht in erster Linie zur Abschirmung der DDR gegen unerwünschte Einflüsse . aus dem Westen dient, sondern wie eh und je vor allem die DDR-Bevölkerung an der Abwanderung nach Westen hindern soll. Unter den Verurteilten der Skinhead-Prozesse findet man sowohl Jugendliche aus gestörten Familienverhältnissen, mit schlechter Schul-und Berufsbildung und Vorbestrafte als auch solche mit normaler Entwicklung, guten Leistungen in Schule und Beruf (der sechzehnjährige Hauptangeklagte im Prozeß gegen die Friedhofsschänder von Berlin-Prenzlauer Berg war sogar zeitweilig FDJ-Sekretär). Allerdings waren darunter – soweit den in der DDR veröffentlichten Gerichtsberichten zu entnehmen ist – keine Schüler aus Erweiterten Oberschulen oder Studenten. Es fällt auf, daß gerade besonders junge Skinheads, z.B. die fünf 15- bis 17jährigen im Prozeß in Berlin-Prenzlauer Berg, mit besonderer Intensität zu Werke gingen. Das mag mit ein Grund dafür sein, daß selbst in den Berichten und Kommentaren der DDR-Medien immer wieder nach der Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts und der sonstigen politischen Erziehung in den Schulen gefragt wird. Offenkundig können es sich die offiziellen Beobachter der Prozesse nicht erklären, warum bei einer nicht mehr ganz geringen Anzahl von Jugendlichen die nach Umfang und Inhalt durchaus anerkennenswerte antifaschistische Erziehung in den Schulen nicht ankommt. Sollte das daran liegen, daß mit der Erfolglosigkeit der ideologischen Erziehung insgesamt gerade unter der Jugend das dabei mit vermittelte antifaschistische Gedankengut auch nicht mehr angenommen wird, daß vielleicht.

Der Naziüberfall auf die Zionskirche

Die Ereignisse vom 17. Oktober 1987 waren der erste Schritt zu einer neuen Qualität der Konfrontation. An diesem Tag gelangte die Zionskirche in Berlin Prenzlauer Berg erstmals zu unerwarteter Berühmtheit.

Als gegen Ende eines Rockkonzerts in der Kirche eine große Gruppe Skinheads auftauchten, Naziparolen gröhlend auf Konzertbesucher einschlugen und im Umkreis der Kirche unbescholtene Passanten und Einwohner angriffen, war es plötzlich und unverhofft geschehen. Was staatlicherseits über Jahre hinweg durch Justiz und Polizei, durch Versuchung, Abwiegelei und durch harte Repression unter dem Deckel gehalten wurde war plötzlich nicht mehr zu halten gewesen. Anteil daran hatte auch die hartnäckige Öffentlichkeitsarbeit der Umwelt-Bibliothek, die eine Vertuschung durch die DDR-Oberen von vornherein verhinderte. Nun waren sie in aller Munde. Skinheads, Neaonazis, Faschos. Doch erst einmal versuchte man sich auf seiten der SED in Schadensbegrenzung. Nach einigen Tagen des Schweigens war dann auch in der DDR-Presse in kleinen Meldungen von einem Übergriff von Rowdys zu lesen.

Die Ostberliner Untergrundzeitschrift „Umweltblätter“ berichteten in ihrer Ausgabe vom 1.September 1987 ausführlich über den Überfall. Darüber hinaus werden erstmal unabhängige Versuche zur antifaschistischen Selbstorganisierung in der DDR erwähnt:
„..Als die UmweltBibliothek im Sommer des Jahres in der im Bau befindlichen Zionskirche mit der Veranstaltung von Konzerten begann, konnte keiner die Folgen ahnen. Der Anspruch, nebenbei die Friedens? und Umweltproblematik breiten Schichten zu vermitteln, erwies sich als verfehlt, Stattdessen fühlten sich die Veranstalter in die Rolle gedrängt, das stete Defizit einer Jugendszene an Lebensgefühl und Rausch zu befriedigen. Erschreckend brach in die heile Aufklärungswelt der Öko-Paxer die irrationale Realität des Landes herein, zuletzt beim Überfall der neonazistischen Jugendsekte der Skins während des Konzerts am 17.Oktober (1987; d. Autor). Die Situation war grotesk. Die 3OO bis 400 am Ende des Konzerts noch gebliebenen Zuschauer 1ießen sich von 3O Glatzköpfen terrorisieren. Erst als eine kleine Anzahl von Entschlossenen massiv gegen die Skins vorging, verließen diese fluchtartig die Kirche. Um sich ihre Niederlage zu entschädigen „mischten“ die Skins auf dem Rückweg den Schwulenstrich an der Schönhauser Allee „auf“. (Die sind jedenfalls schön feige und wehren sich nicht ? warum eigentlich nicht?). Tatenlos stand auch die Besatzung von mehreren Polizeiwagen um die Zionskirche herum. Angeblich hatten sie keine Anweisungen, andere wollten „in so einen Haufen nicht reingehen.“ (…)
Der Widerstand gegen die Glatzköpfe ist vorerst vereinzelt und diskontinuierlich. Von der Polizei wurde die Bewegung seit Anfang an bagatellisiert. (…) Verurteilungen der Skins vor Gericht erfolgen in der Regel individuell, nicht wegen faschistischer Propaganda sondern wegen Körperverletzung oder Rowdytum, sodaß die Skins nach einem halben Jahr wieder in Freiheit sind. (…)
Fakten und Zahlen hin und her ? es bleibt der schale Beigeschmack der Provinzposse, der schlechten Immigration, des schlechten Theaters. Gewiß, es ist blutig ernst, aber zugleich in höchstem Grade lächerlich. Aber vielleicht ist gerade das das Gefährliche an diesem Neofaschismus. -r.1.- “

Ein Schauprozeß soll´s richten

Nachdem sich die Gemüter nicht zu beruhigen schienen, es also der Parteipresse nicht gelang das Thema Naziskins wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen und selbst das SED-treue „Komitee der Antifaschisten“ zaghaft staatliche Schritte forderte, ging man in die Offensive. Kurzerhand wurde eine Handvoll, am Überfall beteiligte Nazi-Skins eingefangen und man machte ihnen den Schauprozeß. Ein Augenzeuge schrieb darüber in den Umweltblättern Ausgabe vom 15. Dezember 1987:
„…Vier Tage lang hatte ich die Möglichkeit, den Prozeß gegen 4 Skin-Heads zu beobachten. der Prozeß war eigentlich öffentlich. Entgegen der Praxis in „politischen Prozessen“ die Öffentlichkeit auszuschließen, kam es bei diesem Prozeß gegen „4 Rowdies“ nicht zu einem ausschließenden Beschluß der Kammer des Stadtbezirksgerichts Mitte. Kollektivvertreter, Eltern, Geschwister, eine Verlobte, die DDR-Presse, Vertreter der evangelischen Kirche als auch der jüdischen Gemeinde der Hauptstadt blieben im Gerichtssaal Nr. 385 in der Littenstr. Weitere Besucher hatten kaum die Chance, der Verhandlung beizuwohnen. Es gab halt nur wenige Stühle und die waren immer besetzt. Einigen Zeugen bot Richter Engelmann nach Befragung das Verbleiben im Saal an. Für Zeugen, die der Skin-Szene zuzurechnen sind, galt: Verlassen Sie bitte den Verhandlungsraum, alle Plätze sind besetzt. Vor und im Gerichtsgebäude kontrollierten Mitarbeiter der Staatssicherheit die Besucher des Prozesses. Fragt sich nur, wozu diese Präsenz der Staatssicherheit beim Prozeß? (…)
An drei Verhandlungstagen erschienen 22 Zeugen. Richter Engelmann, die aktivste Person der gesamten Veranstaltung, fragte, wies zurück, faßte nach. Insgesamt eine erstaunliche Leistung zur Aufklärung des Rowdytums. Die ihm zur Linken bzw. Rechten sitzenden Schöffen, zwei Frauen, wirkten eher wie Statisten und ergriffen nur 2-3 mal das Wort. Vielleicht kam ihnen auch mehr die Supervisorfunktion zu.

Staatsanwalt Hecht, deutlich in Fragen und Beiträgen hinter dem Richter zurückstehend, verfolgte demgegenüber ein reduziertes Programm. Seine Fragen zielten insbesondere auf die Beteiligung Westberliner Skinheads beim Überfall auf die Zionskirche. Jeder Zeuge und Beschuldigte hatte die Frage nach Anzahl, besondere Merkmale und Namen zu beantworten. Ihm selbst war lediglich ein Westberliner „Rädelsführer“ namens „Bomber“ alias bürgerlich Bäcker bekannt. Richter Engelmann steuerte erst bei der Urteilsbegründung einen zweiten Namen, „Thomas“, bei. Besondere Aufmerksamkeit galt den Nazi-Rufen der Angeklagten. Sowohl Zeugen als auch die beschuldigten Rowdys wurden dazu systematisch abgefragt.

Nichts blieb davon in der Zeugenvernehmung ausgeblendet. Der Nachweis hingegen fiel Richter und Staatsanwalt außerordentlich schwer. Die Beschuldigten wiesen die Zeugenaussagen, demnach sie das Horst-Wessel-Lied gesungen haben, die Hand zum Hitlergruß erhoben, „Juden raus aus deutschen Kirchen“, „Kommunistenschweine“ u.v.m. brüllten, glattweg zurück. Der Angeklagte Sven Ewert (20) sagte: „Hätte ich gewußt, daß solche Losungen gerufen werden sollten, wäre ich nicht zur Zionskirche gefahren.“ Warum er sich nicht von den Nazis zurückzog, sagte er jedoch nicht.

Lediglich der 17-jährige Frank Brand gestand einen „Heil Hitler“-Ruf und empörte sich über das Strafmaß von 18 Monaten. Der Hauptangeklagte Ronny Busse, mit 195 cm alle überragend und mit seinen affenartig langen Armen Prügelkommandos auf Punks und anderen Konzertbesucher hetzend, hatte selbst nur Rufe wie „Nazis raus“ gehört. Aus dieser Beweisnot behalf sich Richter Engelmann mit dem Grundsatz: `Die objektive Schwere der Gesamttat muß jedem Einzelnen angelastet werden.´

Staatsanwalt Hecht beantragte schließlich Haftstrafen wegen „Rowdytums“ und in drei Fällen, wegen „Öffentlicher Herabwürdigung“ von einmal 2 Jahren, zweimal 18 Monaten und einmal 14 Monaten. In der Urteilsbegründung durch Richter Engelmann wurde insbesondere die Beteiligung Westberliner Skins herausgestellt. Sogar deren Rädelsführer „Bomber“ alias Becker ist bekannt. Er charakterisierte die Straftaten als schwere Vergehen gegen die Würde des Menschen, geeignet Panik und Unruhe in der Bevölkerung hervorzurufen. Der Angriff, so Richter Engelmann, war geplant und organisiert durchgeführt. Als besonders straferschwerend kommen die faschistischen, nazistischen und rassistischen Herabwürdigungen hinzu. In seinem Urteil trug er dieser Einschätzung jedoch kaum Rechnung. In zwei Fällen blieb er unter dem Antrag des Staatsanwalts. Sein Urteil belief sich auf 2 Jahre, 18 Monate, 15 und 12 Monate für die „Rowdys“. Von den unterschiedlichsten Prozeßteilnehmern und ?Interessierten, bis hin zu Antifaschistischen Widerstandskämpfern wird das Urteil als der Schwere des Verbrechen nicht gerecht werdend eingeschätzt. Eine Einordnung der Straftaten unter Rowdytum“ ist sicherlich von vornherein verfehlt. Handelt es sich hier nicht vielmehr um ein Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenrechte, wenn Personen brutal angegriffen werden, weil unter Ihnen Juden, Kommunisten oder Punks vermutet werden? Eindeutig ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ? wenn Menschen nur wegen nationaler, weltanschaulicher oder kultureller Besonderheiten, so einer der Angeklagten, „umgehauen“ werden, zudem geplant und organisiert. Sollte in diesem Fall nicht wirklich einmal der berüchtigte § 218 zutreffen? ? c.j. ? “

Das Urteil rief allerorts Proteste hervor. Unter der Überschrift „geringe Freiheitsstrafen für Rowdys“ berichtete die DDR-Presse über das unerwartet milde Urteil. Die Staatsanwalt legte sofort Protest gegen das Urteil ein. In einer ADN-Meldung vom 07. Dezember 1987 heißt es dazu: „Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin? Mitte, durch das vier Rowdys wegen ihrer aktiven Beteiligung an schweren Ausschreitungen am 17. Oktober 1987 vor und in der Zionskirche in Berlin zu Freiheitsstrafen zwischen 1 und 2 Jahren verurteilt worden waren, Protest eingelegt. Im Protest wird hervorgehoben. daß die ausgesprochenen Freiheitsstrafen in keiner Weise der Schwere der begangenen Straftaten entsprechen, insbesondere wegen des brutalen und organisierten Vorgehens, des Brüllens von faschistisch?terroristischen Parolen sowie der schweren Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Wer in dieser Art die Rechtssicherheit beeinträchtigt, muß mit aller Konsequenz zur Verantwortung gezogen werden. Das Stadtgericht Berlin wird über den Protest entscheiden…“.

Durch den unerwarteten Druck der Öffentlichkeit ist man gezwungen, den Prozeß neu aufzurollen. Die Umweltblätter berichteten in ihrer Ausgabe vom 20.01.1988 über die Berufungsverhandlung:
„…Kurz vor Weihnachten eröffnete der 1.Strafsenat des Stadtgerichts Berlin die Verhandlung in der 2. Instanz gegen die vier „Skin?Rowdies“. Maßgebend dürfte der Hinweis auf Artikel 6 unserer Verfassung gewesen sein, demnach „militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen? und Völkerhaß als Verbrechen geahndet“ wird. Also mit Strafen ab 2 Jahren aufwärts. Vielleicht kannte die erste Instanz die Verfassung nicht so genau, aber dies dürfte in Bezug auf unseren „Gesellschaftsvertrag“ kein Einzelfall sein.

Der 2.Instanz war ein Protest der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Stadtbezirksgerichts Mitte vorausgegangen, demzufolge die zu „milden Strafen“ aufgehoben wurden. Die Rechtsanwälte Puvalla und Kossek verwiesen auf eine Besonderheit: Der Protest der Staatsanwaltschaft richtete sich zugleich gegen Strafanträge der Staatsanwaltschaft. Staatsanwalt Boese konnte jedoch „zahlreiche Proteste aus der Bevölkerung“ anführen und erklärte, daß es in der DDR keinerlei Nachsicht für diese Straftaten gibt. Die „Ausschreitungen“ vor und an der Zionskirche wären zwar aus dem Westen beeinflußt, aber dies ist hier kein strafmildernder Grund“. Im Urteil der 2.Instanz sind im wesentlichen keine neuen Tatbestände herangezogen worden. Richter Ziegler bewertete die bereits in erster Instanz aufgenommenen Tatbestände jedoch in zwei Fällen als Verbrechen. Das Stadtbezirkegericht Mitte hatte, so Richter Ziegler „die Schwere der Ausschreitungen nicht richtig gewertet“. Ansonsten bestätigte er jedoch, daß die Ausschließung der Angeklagten bei Zeugenaussagen korrekt war. damit ist keine Einschränkung des Rechts auf Verteidigung gegeben. Unzulässig war jedoch die Verlesung einer Zeugenaussage in Abwesenheit des Zeugen.

Die besondere Schwere der Überfälle charakterisierte der Richter als „völlig neue Form der Kriminalität in der Hauptstadt“.

Dem entsprechen die Urteile: 4 Jahre für Rädelsführer Busse, 2 Jahre 6 Monate für den 17?jährigen Brand, Ewert unter Berücksichtigung seiner „aktiven Rolle bei der Wahrheitsfindung“ 1 Jahr 8 Monate, Brezinski schließlich 1 Jahr 6 Monate.

Die Berufungsanträge von drei Verurteilten sind abgelehnt worden. Das Urteil ist bereits rechtskräftig. Ein weiteres Rechtsmittel ist nicht gegeben. ? c.j. – “

Die, wegen des Zionüberfall verturteilten Sven Ebert, Ronny Busse und Frank Brand waren damals schon keine kleinen Lichter. Sie gehörten, neben dem des Überfalls wegen kurzzeitig festgenommenen aber erstaunlicher Weise trotz Zeugenaussagen nicht angeklagten Jens-Uwe Vogt, zum harten Kern der BFC-Skins. Die Rolle von Vogt war in diesem Zusammenhang für alle Beteiligten und die Prozeßbeobachter äußerst mysteriös. Als er plötzlich von der Bildfläche verschwand, war dies Anlaß für vielerlei Verdächtigungen; von Verrat war besonders unter „Kameraden“ die Rede. Stasi-Gerüchte machten die Runde. Auf die seitdem unbeantworteten Fragen fand die Illustrierte ‚Prinz‘ in ihrer Ausgabe 17/91 eine Antwort: Vogt soll seit 1982 inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen sein, hieß es dort. Schlüssige Beweise für Vogt´s Kontakte zur Stasi ist blieb ‚Prinz‘ jedoch schuldig. 1988 reiste Voigt nach westberlin aus. Durch seine Verbindungen zu den NF-Kadern Andreas Pohl und Christian Franke stieg er innerhalb der NF-Berlin schnell zum Kader auf und versuchte schließlich, Pohl den Rang abzujagen. Während dieser Zeit hielt Vogt weiterhin intensive Kontakte zu „seinen“ Fans vom BFC.

Die Hexenjagd beginnt

Unter dem Eindruck der Ereignisse um den Überfall auf die Zionskirche, dem Prozeß und dem großen öffentlichen Interesse im In- und Ausland, befürchtete die SED-Führung ein extremen Imageverlust. Um dem entgegenzuwirken, wurden die Sicherheitsorgane angewiesen ihre repressiven Maßnahmen gegen die Skinheadszene um ein Vielfaches zu intensivieren. Mit Beginn des Jahres 1988 setzte eine regelrechte Hetzjagd ein. Zusätzlich wurde alles unternommen, Skinheads aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Sämtliche öffentlichen Einrichtungen wie Jugendclubs, Diskotheken, Kneipen und Kinos erhielten intern die Anweisung, Skinheads und nach Skinhead aussehenden Personen den Zutritt zu ihren Einrichtungen zu verweigern, sie nicht zu bedienen und im Weigerungsfall die Polizei zu verständigen. Gleichzeitig ging man dazu über, öffentlichkeitswirksam Flagge zu zeigen. Unmittelbar nach dem Ende des Zionskirchenprozeß kündigte die Generalstaatsanwaltschaft weitere acht Prozesse gegen „Skin?Rowdies“ an. Gleichzeitig stellte der Generalstaatsanwalt der DDR an den Generalstaatsanwalt von Westberlin ein Ersuchen auf Strafverfolgung gegen „….Einwohner von Berlin (West)…“ die am Überfall auf die Kirche beteiligt waren. Der Westberliner Justizsprecher Kehne teilte daraufhin mit, „…daß die Westberliner Staatsanwaltschaft voraussichtlich gegen Westberliner Skins, die bei dem Überfall auf das Konzert in der Zionskirche beteiligt waren, ein Ermittlungsverfahren einleitet…“ Es soll wegen Körperverletzung, Nötigung und Volksverhetzung gegen Unbekannt ermittelt werden, da in einem Schreiben der Zionsgemeinde an den regierenden Bürgermeister Diepgen nur ein Familienname und ein möglicherweise mit diesem nicht zusammenhängender Vorname und ein Spitzname genannt wurde. Laut Kehne wäre die Zuständigkeit der Westberliner Staatsanwaltschaft für die Vorfälle im Stadtbezirk Mitte gegeben, da die Straftaten an Deutschen verübt wurden. Möglicherweise werde ein Rechtehilfeersuchen an die Generalstaatsanwaltschaft in Ostberlin gestellt. Das Ermittlungsverfahren wurde am 5. Januar 1988 aufgenommen. Allerdings verlief dies im Sande. Erst nach der „Deutschen Einheit“ wurde das Verfahren auf Antrag des Pfarrers der Zionsgemeinde erneut aufgenommen und es kam zum Prozeß.

Währenddessen erhielt die hauptstädtische Polizei die Anweisung, skinverdächtige Personen verstärkt zu überprüfen und gegebenenfalls festzunehmen. Das Ergebnis war, daß Kurzhaarige und Glatzköpfige aller Couleur auf den Straßen Berlins nicht mehr sicher waren. Die Umweltblätter vom 20.01.1988 berichteten über aberwitzige Beispiele polizeilichen Übereifers: „…Axel, der kurze blonde, vielleicht ein wenig zu dünne Haare trägt, wurde am 18.Dezember aus einem fahrenden Bus geholt, der zu diesem Zwecke angehalten wurde. Gleich beim Aussteigen bekam er von den Polizisten „eine eingeschenkt“. Während einer vierstündigen Zuführung wurde dann seine Gesinnung überprüft. Pech nur für die behandelnden Polizisten, daß der Vater höherer Kulturfunktionär ist und eine empörte Eingabe machte. So mußte ein hoher Polizeioffizier auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidenten sich bei Axel entschuldigen. Er wies dabei auf die kranke Frau und die Kinder des fehlgeleiteten Polizisten mit zu Herzen gehenden Worten hin und gelobte, daß für die Zukunft präzisere Anweisungen dafür sorgen werden, daß dergleichen nicht mehr passiert. Aber schon am 21.Dezember kam Till, 17 und mit einem unvernünftig kurzen Stoppelhaarschnitt (wenn auch im Trenchcoat) an die Reihe. Er wurde mit einem VP?Streifenwagen direkt in den Innenhof des Polizeipräsidiums in der Berliner Keibelstraße transportiert. wo Till aus den Fenstern mit einem vielstimmigen zustimmenden „Oi, Oi, Oi!“ empfangen wurde. Nach mehrstündigem Warten wurde Till vernommen und sollte, nachdem seine Nichtzugehörigkeit zur Kategorie „Skin“ festgestellt wurde, eine Belehrung über die Befolgung der § 95 und folgende unterschreiben. Till unterschrieb nicht ? gegen ihn lief ohnehin wegen angeblichen Druckens in der Umwelt-Bibliothek ein Verfahren nach § 218. Statt nun nach Hause gefahren zu werden, wie angekündigt wurde, begann für Till nun wieder eine Zeit des Wartens. Als er sich dann beschweren wollte, wurde er vom bewachenden Polizisten ins Gesicht geschlagen. Der Vorgesetzte, bei dem er sich darüber beschwerte, kündigte Till an, daß er ihm “auch gleich eins in die Fresse schlägt“. Dann beschimpfte ihn der Bewacher als „Nazi? Drecksau!“. Der später erscheinende Vernehmer ging auf Tills Beschwerde gar nicht ein.

Till der sich als eines der Opfer des Nazi?Uberfalls auf die Zionskirche beleidigt und ungerecht behandelt fühlt, hat vor drei Wochen eine Beschwerde an das Innenministerium und das Polizeipräsidium gerichtet. Bisher ohne Ergebnis…“

Hans-Dieter Schütt sieht einiges anders

Ein Monat nach dem Überfall der Skinheads auf die Zionskirche erfährt die Kirchengemeinde einen weiteren ganz anders gearteten Überfall. Am 18. November 1987 startet das MfS die Aktion Falle gegen die in der Zionsgemeinde ansässige Umwelt-Bibliothek. Räume werden durchsucht, unzähliges Material beschlagnahmt, Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek werden festgenommen. Die politische Opposition reagiert prompt. In der Zionskirche wird eine Mahnwache installiert. Man fordert die Freilassung der Inhaftierten, die Zurückgabe der beschlagnahmten Sachen und die Einführung demokratischer Grundrechte.

Da erscheint in der Jungen Welt unter der Rubrik „So sehe ich das“ ein Kommentar des Chefredakteurs Hans-Dieter Schütt. In einer Meisterleistung propagandistischer Verdrehung gelingt es ihm, rechtsradikale Skinheads und oppositionelle Mahnwächter in einen Topf zu werfen, gut durchzurühren und das ganze als ein und das Gleiche hinzustellen. Die Oppositionellen sind empört. In einem Kommentar gehen die Umweltblätter in ihrer Ausgabe vom 15. Dezember 1987 auf diese Hetzaktion ein:

„…Hexen?Einmaleins in der `Jungen Welt´

“Der Feind“, so dieser Tage der Chefredakteur der“Jungen Welt“ Hans Dieter Schütt, „hat bei uns keine Chance“. Und mit Pathos: „Bei uns stimmen Recht und Gerechtigkeit prinzipiell überein.“ Es ging dem hochdotierten Schreiber um die Verschärfung des Gerichtsurteils gegen die Nazi?Skins, die vor Wochen ein Rockkonzert in der Berliner Zionskirche überfallen hatten. En Passant wurden aber auch andere vom Feind gesteuerte Kreaturen benannt: „Literaten, .die des Talent haben, ein Talent zu verkaufen, das sie gar nicht haben“ und Mahnwächter“, die „stets pünktlich wie auf Bestellung mit Fernsehkamera vor Kirchentore ziehen.“ Das alles unter der Überschrift: „Warum freue ich mich über den Protest gegen ein Gerichtsurteil?“ und: „So sehe ich das.“ Irgendwo las ich neulich, was jemand im vorigen Jahrhundert mit feinem Humor einem solchen regierungsoffiziellen Schreiberling erwiderte: „Es freut mich, daß es ihnen erlaubt wurde, eine Meinung zu äußern!“

Herrn Schütt also wurde es erlaubt, eine Meinung zu äußern. Oder wurde er sogar beauftragt, und von wem? Dient die Meinungsäußerung dazu, die „Junge Welt“ noch stärker zur Speerspitze der kalkrieselnden konservativen Freunde zu machen? Oder wurde hier sogar Regierungsmeinung ausgedrückt und exklusiv in einem auflagenstarken Organ veröffentlicht, das bevorzugt der Aigitationsarbeit unter jungen Leuten dienen soll? Das müßte geklärt werden.

Ist es gleicherweise Zufall, daß Lehrer in der ganzen DDR die Kinder belügen, im Keller der Zionskirche sei faschistische Literatur gedruckt worden, daß unter Erwachsenen systematisch Gerüchte verbreitet werden, die Mahnwache habe nicht für die verhaften Drucker, sondern für die Nazi?Skins stattgefunden? Wem dienen diese Lügen und falschen Gerüchte? Und ist es wirklich Zufall, daß die “Junge Welt“ jetzt schwarz auf weiß wiederholt, was vorher verbreitet wurde?

Mit Pressefreiheit jedenfalls hat diese Art von platter Haßpredigt ebensowenig zu tun wie mit sachlicher Information, differenziertem Denken und Abbau der Feindbilder. Die Gegenaufklärung hat mal wieder Flagge gezeigt.

Ich denke, daß wir uns nicht darüber freuen können, daß das Urteil gegen die Nazi?Skins verschärft wird, wer dort vor Gericht stand, das waren nicht die Hauptfiguren. Ungeklärt blieb, ob tatsächlich eine Frau (… ?) verlor oder sogar das Gerücht über einen Toten zutrifft. Möglicherweise soll das verschwiegen und hinter den Kulissen in dem noch ausstehenden Prozeß gegen weitere Nazis?Skins geklärt werden. Aber eben um eine öffentliche Klärung hätte es gehen müssen.

Eine ganz andere Frage aber ist es, ob die DDR?Haftanstalten in irgendeinem Sinne Resozialisierungshilfe geben können. Alle Erfahrungen besagen das Gegenteil. Bliebe höchstens noch das ganz blutige und primitive Rachebedürfnis einer Gesellschaft oder das Anliegen, das Problem durch „Wegschließen“ für ein paar Jahre zu vertagen, um es dann und noch profilierter auf den Tisch des Hauses zu bekommen. Eine Lösung jedenfalls ist das auf keinen Fall. Schärfer ausgedrückt: Für die Bewältigung von Kriminalität gibt es in unserem Land bis jetzt kein einziges greifendes Konzept.
Aber für Hans?Dieter Schütt? sind das natürlich gar keine Fragen. Auch die erhebliche Ausbreitung von Neonazismus bei jungen Leuten in der DDR kann ihn nicht zum Grübeln bringen: Der Ungeist kommt aus dem Westen , ganz klar. Und vom gleichen Ungeist sind auch oppositionelle Literaten und Mahnwächter erfüllt. Und so ist denn alles geklärt und wir können zum Schluß kommen: Etwa mit der Beschwörungsformel der Hexe in Goethes Faust: Hexe: Du mußt verstehn!
Aus eins mach´ zehn,
Und zwei laß gehn,
Und drei mach´ gleich,
So bist du reich
Verlier die vier!
Aus fünf und sechs,
So sagt die Hex´,
Mach sieben und acht,
so ists vollbracht.
Und neun ist eins
Und zehn ist keins.
Das ist das Hexeneinmaleins
Faust: Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber! – r.1. ?…“

Junge Faschisten in der DDR

VON DIRK TESCHNER

Ob der Rechtsextremismus in den „neuen Ländern “ nur zu verstehen ist, wenn man die Entwicklung vor 1989 mit einbezieht, wie das Bernd Wagner in seiner Studie „Rechtsextremismus und kulturelle Subversion in den neuen Ländern“ behauptet und als Kernthese deklariert, ist auf den ersten Blick fraglich. Denoch ist eine Beschäftigung mit Rechtsextremismus in der DDR unumgänglich im Hinblick auf die Diskussion über eine Wertekontinuität zwischen der Entwicklung in der DDR und der heutigen Stimmung in Ostdeutschland.

Nach der Studie von Bernd Wagner gab es in der DDR vier Entwicklungsstufen für die Entwicklung rechtsradikaler Erscheinungen.

1. Phase 1980/81

Sie war gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Richtungen in der jugendkulturellen Szene. Gewaltausübende und Opfer gehörten in die gleiche jugendkulturelle Szene.

2. Phase 1982/83

Das Gewaltmonopol in der jugenkulturellen Szene ging auf die Skinheads über. Körperliche Gewalt wurde gezielter als Disziplinierungsinstrument und zur Eroberung von Räumen eingesetzt. Die Anhängerschaft der Skinheads wuchs.

3. Phase 1985/86

In dieser Phase tauchten neue Opferstrukturen auf, denen ein zunehmend ideologisiertes Feindbild zugrunde lag: Ausländer, Schwule, Grufties und Punks. 1985 kam es zur Gewalt gegen dunkelhäutige Ausländer in Eberswalde, Dresden, Ostberlin, Cottbus, Görlitz und Königs Wusterhausen. Eine neue Qualität wurde erreicht und die Gewaltanwendung hat sich differenziert.

4. Phase: 1987/89

Das Jahr 1987 markierte eine qualitativ neue Entwicklungsstufe mit einer Ausdifferenzierung der rechten Szene in „Faschos“ (Selbstbezeichnung) und Skinheads. Die Gruppenstruktur und die Aktivität der Gruppe wurde durch Führer, intelligente Führungskadern, die die Gruppenmitglieder befehligten, geprägt. Es kam zu ersten regelmäßigen Kontakten zwischen ostdeutschen Rechtsextremisten und rechten westdeutschen Parteien. Schon 1989 gab es ein DDR-weites funktionierendes kommunikatives Netzwerk. Die Phase der Ablösung von der jugendkulturellen Bewegung setzte ein, es entstanden neonazistische Konglomerate. Die meisten Kreis- und kreisangehörigen Städte der DDR hatten 1989 Nazi-Szenen etwa in der Stärke von 5-50 Personen. Ein Hindernis für die weitere Verbreitung der rechtsextremen Szene waren die Sicherheitsorgane der DDR und die mangelnde Medienpräsenz.

Rassistische, antisemitische und faschistische Äußerungen und Handlungen gab es unter DDR- Jugendlichen schon immer. Aus persönlichen Erlebnissen sind uns aus Mitte der siebziger Jahre Hitlergeburtstagsfeiern, Sammeln von faschistischen Symbolen, Überfall auf Schwulen-Klappen,Harkenkreuz-Schmierereien an sowjetischen Ehrenmalen, wie auch Auseinandersetzungen mit Wolgadeutschen, sowjetischen Soldaten und afrikanischen ArbeiterInnen bekannt. Es waren meistens spontane Überfälle, Möglichkeiten zur Organisation von rechten Jugendlichen waren kaum gegeben. Die Hauptabteilung XX des MfS registrierte in den Jahren 1978/1979 insgesamt 188 Fälle von schriftlicher staatsfeindlicher Hetze mit „faschistischem Charakter.

In den siebziger Jahren waren die Fußballfans und Jugendclubs bunt gemischt. Fußballspiele waren die einzigen Orte, wo eigene Fahnen, Symbole und Sprechchöre ohne Repressionen viele Leute erreichten. Es gab regelmäßig Prügeleien mit der Polizei und dem gegnerischen Fanblock. Anfang der achtziger Jahre wurde der Fanblock des 1. FC Union Berlin vom Ministerium für Staatssicherheit mehrheitlich als von „Assozialen und Chaoten“ unterwandert eingeschätzt. Ab 1981/1982 verstärkte sich der Einfluß faschistischer Ideologie in den Fußballstadien der DDR. Das nötige Propagandamaterial und die jeweiligen Kleidungsstücke kamen aus dem Westen von ausgereisten DDRlern oder Naziorganisationen. Die Nationalistische Front (NF) unterstützte so den Fanblock des Stasi-Fußballclubs BFC Dynamo, die Jungen Nationalen (JN) unterstützten den Fanclub des 1. FC Union Berlin. In den Fußballstadien kam es zu Sprechchören, wie „Wir machen Judenverbrennung“, „Hängt ihn auf, das schwarze Schwein“, „Gib Gas, gib Gas wenn der… durch die Gaskammer rast“, „Fußball in der Mauerstadt, Union spielt jetzt hinter Stacheldraht was Neues in der DDR der BFC ist jetzt der Herr- Zyklon B für Scheiß Union – in jedem Stadion ein Spion- selbst Ordner sind in der Partei – Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei“ (gesungen nach der Melodie des bekannten Fehlfarben-Songs).

Am 28. 2. 1982 kam es nach dem Fußballspiel Motor Hennigsdorf gegen FC-Union Berlin zu antisowjetischen Ausschreitungen, als auf dem Bahnhofsgelände ein sowjetischer Militärtransport einen Aufenthalt hatte. Nach Buh-Rufen kam es zu Beschimpfungen und Gesängen wie „Ras, dwa, tri, – Russkis werden wir nie“. Es hagelte Steinwürfe auf sowjetische Soldaten und ein Militärfahrzeug wurde zerstört. Solche Aktionen brachten Symphatie bei vielen Jugendlichen, aber auch älteren Menschen.

Nach Erkentnissen der Hauptabteilung Kriminalpolizei lautete es zu der Zeit, Anfang der 80er: ,Seit 1981 treten sichtbare Elemente nationalistischer und neofaschistischer Ideologie in Erscheinung. Den Personen galt als Symbol des Angriffzieles- faule, stinkende, anarchistische Punks, Ausländer, Gruftis, Homosexuelle und Menschen jüdischen Glaubens bzw. ihre Objekte. Im Feld weitestgehenden öffentlichen Schweigens entfalten Skinheadgruppen ein sendungsbewußtes Eigenleben,gekennzeichnet von erfolgreichem Bemühen um Anhangsgewinn in allen Territorien und den Aufbau konspirativer Strukturen.

Gründungen von faschistischen Kadergruppen, wie der „Wehrsportgruppe Bitterfeld“, die sich 1983 gegründet haben soll, wurden nur sporadisch bekannt. 1986 gründeten Lichtenberger rechte BFC-Hooligans die „LICHTENBERGER FRONT“ und 1988 die „BEWEGUNG 30. JANUAR“ – beide hatten engen Kontakt zur FAP. 1988 gründeten ältere Personen, vereinzelt aus staatlichen Organisationen kommend in Wolgast die „SS-DIVISION WALTER KRÜGER“. In Blankenhain ernannte sich eine Gruppe Anfang 1989 zu „GRAUE WÖLFE“, mit der Forderung „Blankenhain muß Negerfrei werden“.

In der Gesellschaft und den Medien wurde das Thema Rechtsradikalismus erst ab dem Überfall auf ein Konzert in der Berliner Zionskirche 1987 wahrgenommen. Auch das MfS erstellte erst nach dem Überfall eine Übersicht über die in der DDR existierenden Gruppen.

Am 17.10.1987 stürmten 30 organisierte Nazis Skinheads nach dem Konzert der Musikgruppen „Element of Crime“ und „Firma“ die noch halbvolle Zionskirche. Den Überraschungseffekt ausnutzend prügelten sie auf die Leute ein, die gerade aus einer Tür den Raum verlassen wollten. Dabei riefen sie „Sieg heil“ und „Juden raus aus deutschen Kirchen“. Die Polizei beobachtete nur und griff nicht ein. Auf dem „Nachhauseweg“ schlugen die Naziskins mehrere Männer vor einer Schwulenklappe zusammen.

Nachdem die westlichen Medien darüber berichteten, kirchliche Gruppen protestierten, sich eine Antifa-Gruppe bildete und nicht zuletzt als klar wurde, daß sich mehrere Westberliner Faschisten am Überfall beteiligt hatten, reagierten die DDR- Presse und die Volkspolizei.

Beteiligte wurden festgenommen und im Dezember 1987 zu 1,5 bis 4 Jahren Haft verurteilt. Danach wurden in schneller Folge auch andere faschistische Überfalle bekannt:

22.3.1987 Zusammenschlagen eines NVA-Angehörigen durch sechs Skinheads in Berlin-Marzahn,

29.3.1987 Zusammenschlagen von Punks durch Naziskinheads in einem Bungalow in Berlin-Hellersdorf,

11.9.1987 Zusammenschlagen mocambiquanischer Menschen in Dresden,

31.10.1987 Ausschreitungen im Anschluß an einer Tanzveranstaltung in Velten (Potsdam), Besucher wurden verletzt, die Gaststätteneinrichtung wurde zerstört und danach gab es eine Auseinandersetzung mit der Polizei.

Im Zeitraum vom 1.10.1987 bis 20.1.1988 wurden durch das MfS und der Kriminalpolizei insgesamt 40 Strafverfahren gegen 108 rechte Jugendliche eingeleitet, davon gingen 94 Personen in Haft. 1988 wurden 185 faschistische Straftaten registriert und 44 Ermittlungverfahren eingeleitet.

Im Jahre 1989 wurden 300 „rechte“ Straftaten registriert und 144 Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Die meisten faschistischen Aktionen wurden aber nicht registriert. Viele Ausländer brachten rassistische Übergriffe gar nicht zur Anzeige. Meistens hieß es von den ,Betreuern“, daß sie sich eben an bestimmten Orten nicht aufhalten sollen. Nur Pech, daß sich in vielen Städten die Ausländerwohnheime in den Neubauvierteln also gerade dort, wo rechte Jugendgruppen am stärksten präsent waren – befanden.

Offiziell wurde als Begründung für die Existenz faschistische Gedankenguts in einem „realsozialistischem – antifaschistischem Staat“ natürlich der negative Einfluß aus dem Westen an erster Stelle genannt. So hieß es bezeichnend in einer Einschätzung der Hauptabteilung XX des MfS vom 2.2. 1988: „Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversionen des Gegners zeigen sich auch nach wie vor in der Herausbildung, Existenz und Profilierung von Zusammenschlüssen negativ-dekadenter Jugendlicher. Kennzeichnend für die politische Entwicklung in der BRD und anderen Ländern Westeuropas, wie auch Westberlins ist, daß sich der Einfluß rechtsextremistischer Kräfte auf Jugendliche verstärkt hat und weiter zunimmt. Rechtsextremistische Vereinigungen der BRD versuchen verstärkt, Skinheads, Rockgruppen und jugendliche Fußballfans auf neonazistische Ziele auszurichten. Diese Aktivitäten der rechtsextremistischen Vereinigungen in der BRD blieben nicht ohne Auswirkungen auf Entwicklungstendenzen unter negativ-dekadenten Jugendlichen in der DDR, insbesondere durch die Reisetätigkeit von Skinheads aus dem Operationsgebiet in die DDR.“

Von dieser rechten Entwicklung waren sowohl die staatlichen Institutionen, als auch die meisten Oppositionsgruppen völlig überfordert. Mit Erklärungsversuchen und Alternativen wurde es sich in den bürgerlich-kritischen Gruppen ziemlich einfach gemacht: Realsozialistische Verhältnisse sind nicht gefeit gegen die Entwicklung faschistischen Gedankengutes und faschistischer Gruppierungen, denn faschistische Ideologie ist flexibel genug, um auch unter spezifisch realsozialistischen kleinbürgerlichen und bürokratischen Bedingungen ihren Nährboden zu finden. Die entscheidende Antwort auf aufkommende faschistische Bewegungen sei darum die Demokratisierung.

1988/89 entstanden in mehreren Städten der DDR Antifa-Gruppen, die zumeist aus Leuten der Offenen Arbeit bestanden. In der kirchlichen Jugendarbeit wurden Versuche der Sozialarbeit mit rechten Jugendlichen gestartet, was gerade in Berlin mit Konflikten und Prügeleien endete, da Punks und rechte Skinheads die gleichen Räume benutzten.

Die Ursachenforschung des Staates wurde neben dem MfS und der Kripo vom Jugendforschungsinstitut in Leipzig und an der Humboldt-Universität in Berlin durchgeführt Die Ergebnisse und Schlußfolgerungen kamen nie in die Öffentlichkeit. Bei der Kriminalpolizei wurden die Strafverfahren ausgewertet und analytisch aufgearbeitet.

In einer vorliegenden Studie wurden dazu verwendet:

Beschuldigtenvernehmungen, Zeugenvernehmungen, Protokolle von Hausdurchsuchungen, Beurteilungen von Arbeitskollektiven, Leitern von Schulen, Jugendhilfe, Verhandlungsprotokolle von einer Personengesamtheit 596 rechter Personen im Zeitraum Oktober 1987 bis 1989.

Daraus ergaben sich folgende Kommunikationsinhalte informeller rechter Gruppen:

-Ausländer in der DDR

-Geschichte der Teilung Deutschlands in Folge des 2. Weltkrieges

-Alleinvertretungsanspruch der BRD für das deutsche Volk

-Geschichte des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges

-Arbeitsdisziplin und Organisation im Alltag

-Schlamperei und Vergeudung in der Wirtschaft

-Reiseprobleme und Versorgung mit Konsumgütern

-Probleme mit der Währung der DDR

-Antikommunismus

-sozialpsychologische Aspekte der Massenmanipulation

Die Analyse der sozialen Zusammensetzung rechter Gruppen ergab, daß deren Mitglieder 78% Arbeiter oder Lehrlinge waren. Die Klassenzugehörigkeit der Eltern bestand aus 47% Arbeitern und aus 24% Intelligenz (dabei muß berücksichtigt werden, daß in der DDR Mitarbeiter des Staatsapparates und der bewaffneten Organe ebenfalls zur Klasse der Arbeiter gerechnet wurden).

Nach Altersstruktur aufgeschlüsselt: unter 18 Jahren 15%, 18-21jährige – 60%, 22-25jährige – 22%.

Als Gründe für die eigene rassistische Haltung der rechten Gruppen wurden genannt:

„Ausländer nehmen den DDR-Bürgern Wohnraum weg, reduzieren durch spekulative Käufe das Industriewarenangebot, schleppen AIDS in die DDR ein, behandeln jede
Frau wie eine leicht käufliche Prostituierte, spielen mit ihrer konvertierbaren Währung den dicken Max; ohne dafür ein wirkliches Äquivalent erbracht zu haben, sind auf Krawall und Randale aus, ihnen wird in der Öffentlichkeit und in den Arbeitsstätten allerorts Zucker in den Hintern geblasen.“

An dieser rassistischen Argumentation schloß sich sofort die Kritik an der Haltung der DDR-Regierung an, die dieses alles erst möglich gemacht hätte. Da man keinen Einfluß auf diese Politik ausüben könne, müsse man es eben am „Objekt“ selbst versuchen.

Am Ende der Studie hieß es. ‰Wir haben es mit einer DDR-spezifischen Modifikation eines allgemeinen Problems der Auseinandersetzung mit Sozialismus und Demokratie zu tun. Die Sozialstrukturanalyse beweist, daß die tragenden sozialen Kräfte vorerst aus der jungen Arbeiterklasse kommen und durch bisher nicht identifizierte Schichten-Vertreter der Bevölkerung Unterstützung finden.“ Das klingt doch wesentlich anders als es der damalige Mitverfasser der Studie, Bernd Wagner, heute formuliert: “ Dem Ursprung nach handelt es sich um spontane Reaktionen auf die wirtschaftliche und soziale Stagnation in der DDR…“

Das NKWD/SMAD-Lager Ketschendorf

Bereits ab Kriegsende wurden Speziallager der SMAD und des NKWD geschaffen, wo vor allem Kriegsgefangene, Naziverbrecher aber auch viele unschuldige interniert waren.. Diese Lager basierten auf Alliierten-Recht, nachdem in allen Besatzungszonen durch die Siegermächte Internierungslager errichtet werden durften, die für die „Aufbewahrung“ von Personen gedacht waren, die den „Aufbau“ der „neuen Gesellschaft“ stören könnten, bzw. verbrechen begangen hatten.

In einer ehemaligen Arbeitersiedlung der Deutschen Kabel-Werke im heute zu Fürstenwalde gehörenden Ort Ketschendorf wurde im Mai 1945 vom NKWD das „Speziallager Nr. 5“ eingerichtet. Nach Vernichtung aller Möbel und Einrichtungsgegenstände in sechs Häusern mit je neun Zweizimmerwohnungen sowie in mehreren Einfamilienhäusern trafen die ersten Häftlinge in kleineren und größeren Gruppen zu Fuß im Lager ein. Interniert wurde anfangs gemischt, später dann getrennt nach Alten, Frauen, Männern, Jugendlichen. Es gab dort auch Weißrussen, die auf der Seite der Wehrmacht gekämpft haben. Durchschnittlich befanden sich 6000 Gefangene in Ketschendorf, vor allem Verhaftete aus Berlin und der Mark Brandenburg. 1946 stieg diese Zahl auf 10000 an. Wesentlich ist zu bemerken, daß dieses Lager nicht nur mit, als Nazis bekannten, Personen gefüllt wurde. Neben etlichen Kriegsgefangenen lieferte der NKWD auch sowjetische Zivilisten („0starbeiter“) ein. Gründe für die Verhaftung waren oft für die Bevölkerung nicht durchschaubar und wirkten willkürlich. Berüchtigt war Ketschendorf vor allem wegen seiner hohen Zahl von gefangenen Jugendlichen (mehr als 1600), die unter „Werwolf“-Verdacht dorthin verschleppt wurden.

Die Taktik der Vernichtung bestand nicht in Schläge, Folter, Vergasen, sondern im sich nicht kümmern. Das Lager wurde ab Nov. 1945 von einer deutschen Lagerleitung, aus ehemaligen NSDAP-Polizeioffizieren übernommen. Und da erst begannen die Schikanen verschiedenster Art gegen die Inhaftierten. Die Internierungen erfolgten ohne Verfahren, Urteil, Möglichkeiten der Verteidigung. Angehörige wurden nicht benachrichtigt und die Inhaftierten galten als vermißt. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal.

Über die zustände in Kätschendorf berichtet Kurt Noack, Jahrgang 1930. wie viele seiner Altersgefährten mußte er in den letzten Kriegsmonaten in Hitlers „Volkssturm“ dienen. Zum Einsatz gegen die Rote Armee kam er selbst nicht mehr. Zusammen mit rund 1600 vierzehn- bis achtzehnjährigen Altersgenossen wurde der aus Groß-Kölzig stammende Jugendliche im Herbst 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in das Internierungslager Ketschendorf verschleppt. Die Jungen wurden beschuldigt, der faschistischen Werwolf-Organisation angehört und Verbrechen gegen die Sowjetunion begangen zu haben. Mit von Schlägen begleiteten Verhören in NKWD-Kellern begann für Noack ein dreijähriger Leidensweg durch die Lager Ketschendorf, Jamlitz und Buchenwald:

„…Grünbemützte Posten führten unsere Gruppe durch eine `Schleuse in eine von Stacheldraht, Wachtürmen und einem Bretterzaun umgebene Wohnsiedlung aus zweigeschossigen Häusern: das Lager Ketschendorf.

Wir mußten nackt an Russen in weißen Arztekitteln vorbeimarschieren und wurden gefilzt. Danach brachte man uns zum Entlausen in den Keller eines Hauses am Ende des Lagers. Hier hatte ich den ersten entsetzlichen Eindruck. Nackte, abgezehrte Gestalten saßen da und warteten auf ihre dünne, abgerissene Kleidung, die sich in der Hitze einer Entlausungskammer befand. Es waren Gefangene, die schon seit Wochen und Monaten, vielfach seit dem frühen Sommer dem Hunger ausgesetzt und in der Mehrheit von Krankheit und den unmenschlichen Lagerbedingungen gezeichnet waren. Alle waren an Kopf und Körper kahlgeschoren. Wer von den Neuankömmlingen noch nicht glatzköpfig war, verlor hier seine Haare. Der Anblick der Gestalten in dieser Entlausung zählte zu den nachhaltigsten Eindrücken, die ich in der ersten. Zeit im Lager gewann. Nie zuvor sah ich so etwas. Ich fand ähnliches später nur in den Bildern aus Nazi-KZs wieder.

Die Temperaturen bei der Entlausung reichten in der Regel nicht aus, um alles Ungeziefer zu töten. Oft genug hatten wir später den Eindruck, daß die Läuse durch die Wärme schneller a.us den Nissen krochen, sich die Plage mit allen Arten von Ungeziefer am Körper und in der Kleidung durch die sich in Abständen wiederholenden Entlausungen nur noch vergrößerte. Kleider- und Kopfläuse, Flöhe und Wanzen wurden wir nicht los. Andererseits machten die Entlausungen unsere Kleidung brüchig und verkürzten ihre Lebensdauer. Zum Zeitpunkt meiner Einlieferung mögen reichlich dreißig Jugendzüge im sogenannten Haus l existiert haben. Diese Zahl erhöhte sich bis Jahresende durch Zugänge aus den verschiedenen GPU-Dienststellen des Ketschendorfer Einzugsgebietes um etwa weitere vier bis fünf Züge. Jeder Zug bestand aus fünfzig Mann, so daß sich zu dieser Zeit etwa 1600 Jugendliche in Ketschendorf befunden haben mögen – in einem Haus mit zwei Eingängen und jeweils sechs Wohnungen mit Kellern. Während der ersten Tage fand ich nur einen Platz auf der oberen Treppe im schon kalten Hausflur. Auf den Treppenstufen schlief ich auch.

Dann wurde ich dem Keller 7 zugeteilt. Mein erster Kelleraufenthalt dauerte nur wenige Tage. In Kellern lag ich dann nochmalsfür längere Zeit im Sommer des folgenden Jahres. In jedem der größeren Räume und den Kellern, kaum größer als jeweils achtzehn Quadratmeter, lebten in unbeschreiblicher Enge vierzig bis fünfzig Mann. Die kleinen Küchen boten Platz für rund fünfzehn Mann. Zu jeder von uns belegten Wohnung gehörte ein Badezimmer mit Klo und Badewanne, in der sich das Wasser zum Spülen befand. Von ihm wurde leider auch getrunken, wenn Not war für die, die durch Krankheit und Hunger ihren Widerstandswillen bereits verloren hatten und schwach geworden waren. Das führte immer zur Ruhr mit ihren unerbittlichen Folgen, ihrem fast aussichtslosen Verlauf, Ein Beispiel dafür war ein Fabrikantensohn aus Witten-berge, der nach dem Genuß fauliger Mohrrüben aus dem gefrorenen Abfall vor der Küche von diesem Wasser trank und danach nur noch Tage lebte.

Wir hatten in allen Räumen gerade Platz genug, wie in einer Sardinenbüchse nachts auf der Seite zu liegen und uns gemeinsam umzudrehen, wenn dazu von jemandem der Ruf kam. Eine gewisse Auflockerung trat 1946 ein, als wir aus altem Material eines abgerissenen Kriegsgefangenenlagers drei Stock hohe Pritschen, Regalen gleich, bauen durften. Viele hatten durch das Liegen auf den bloßen Brettern und Dielen oder auf dem Betonboden der Keller durchgelegene Stellen am Körper, die zu großen braunen Flecken auf der Haut, vor allem über Schlüsselbein und Beckenknochen, wurden. Bei einem meiner Freunde stellten sich mit der Zeit erhebliche Deformierungen des Körpers ein. Die Knochen gaben dem harten Fußboden nach.

Tagsüber mußte zur Verrichtung der Notdurft der Donnerbalken hinter den Häusern aufgesucht werden. Das war eine überdachte lange Grube, vor der ein Balken als Sitz angebracht war. Später gab es eine Änderung auf eine Art französi-scher Technologie. Nach dieser Methode wurde die ganze Grube mit einer Bretterschalung überdeckt, in die runde Löcher mit entsprechendem Durchmesser eingeschnitten waren. Die verbesserte Technologie hatte allerdings den schmerzenden Nachteil, daß beim Hocken die die meisten Jugendlichen plagende Eiterborke am Gesäß riß, der Eiter zwar abtropfte, sich aber die Erreger neu verbreiten konnten und die Kleidung immer mehr verschmutzte. Papier befand sich unter uns Häftlingen nicht das allerkleinste Stück. Was der Mensch für die Toilette braucht, verrichtete bei vielen ein kleiner Lappen, der nach seiner Benutzung zusammengerollt und wieder in die Tasche gesteckt wurde.

Mit dem Abtransport von knapp 2000 im Lager befindlichen Russen aus der Armee des Überläufer-Generals Wlassow am 28. November lockerte sich die Enge etwas. Die kleinen Häuser an der Lagerstraße wurden dadurch für uns frei. Tausend Gerüchte gingen mit diesem Transport einher, wie später noch so oft. Viele Möglichkeiten waren im Gespräch. Die meisten glaubten an einen Transport aller in Richtung Rußland. Andere meinten, daß wir Weihnachten wieder zu Hause sein würden. So oft solche Parolen auch Hoffnung auslösten, so oft bedrückten sie uns, wenn die Hoffnungen zerrannen. Dennoch gehörten sie zum Lageralltag, sie hielten uns immer in Spannung. Beispielsweise lief immer wieder das Gerücht durchs Lager, daß die Entlassungsscheine schon da wären, man wußte sogar, welche Farbe sie hatten. Für die Kranken und Schwachen bedeutete das einen Strohhalm, an den sie sich mit den verbliebenen Kräften klammern konnten. Es bedeutete aber auch oft das schnelle Ende, wenn nicht eintrat, was erträumt wurde.

Hier, in den kleinen Häusern, stieß ich auf den ehemaligen NSDAP-Kreisleiter von Sorau/Forst, Erich Najork aus Noßdorf. Ich wußte von seiner Zuständigkeit für die Morde an kriegsmüden Soldaten in Forst, die ich am Galgen sah. Najork zählte 1947 zu den Toten von Mühlberg. Der Winter rückte heran, Weihnachten kam näher, die Stimmung sank. Der erste Winter brachte Kälte und Finsternis in die Unterkünfte. Holz war knapp. Mit Glühbirnen mußte sorgsam umgegangen werden. Wir saßen herum oder hielten uns in Bewegung, beschäftigten uns irgendwie und froren dabei redeten vom Essen und erzählten von zu Hause. Noch immer glaubten wir daran, daß die Sorge unserer Mütter um ihre verschwundenen Söhne keine Ewigkeit dauern würde.

Früh warteten wir in Gruppen auf Brot, das, in einer Decke getragen, nach dem Zählappell zugweise geholt werden mußte und nicht selten von Ratten angefressen war. Das Teilen kam einer Zeremonie gleich. Sechs Mann teilten sich ein Brot. Einzige gewohnte Beigabe war neben Kaffee ein Löffel Zucker, überwiegend von der ungereinigten braunen Qualität. Das Brot wurde hauptsächlich mit selbstgebautem Werkzeug zerlegt. Wir bedienten uns dazu eines Drahtes, an dessen beiden Enden je ein Holzgriff zum Anfassen befestigt war, oder eines aus angeschärftem Blech selbstgefertigten Schneidewerkzeuges. Insbesondere der Besitz eines solchen Blechs war streng verboten. Deswegen mußte es sorgsam versteckt gehalten werden. Einer meiner Kölziger Kameraden wurde bei der Benutzung eines dieser „Messer“ von Knoke, dem Hauskommandanten, durch das Fenster beobachtet und bestraft. Zehn Tage mußte er dafür in den Bunker.

Eine solche Strafe konnte den Tod bedeuten, wenn sie einen schon nicht mehr Gesunden traf, weil es neben dem einen täglichen schmalen Stück Brot während dieser Zeit nur einmal, am fünften Tag, warmes Essen gab. Es war außerdem nicht gestattet, Decke oder Mantel mit in den Keller zu nehmen, um sich vor dem bloßen Betonboden zu schützen. Unangemessene Strafen für Kleinigkeiten waren von den Russen gewollt und wurden vom deutschen Häftlingspersonal gewissenhaft und rücksichtslos ausgeführt. In diesem Fall überstand das Opfer den Bunker, doch der besagte Kamerad war nach zehn Tagen kaum wiederzuerkennen.

Mittags holten Essenholer jedes Zuges einen Kübel Grützsuppe, die vom Essenausgeber, meist dem Zugführer, verteilt wurde. Abends wurde nochmals Suppe verteilt, die genauso dünn wie mittags war. Die in der Suppe gefundene Grütze entsprach selten mehr als zwei Löffel je Schlag. Ein Fleischstück war die Ausnahme, Fettaugen konnte man zählen, Kartoffeln waren kaum darin. Niemand von uns hatte eine Möglichkeit zur Beschaffung zusätzlichen Essens. Wer aufpaßte, zupfte im Frühjahr eßbares Grün. Jugendliche wurden grundsätzlich nicht den Arbeitskommandos zugeteilt, die innerhalb des Lagers zur Aufrechterhaltung der einfachsten Lebensvoraussetzungen erforderlich waren, wie Küche, Brotfahrer, Holzplatz, Revier, Entlausung, Leichenträger oder andere. Wir hatten noch keine Berufe, waren Schüler oder Lehrlinge, und konnten folglich auch nicht, wie einige wenige Handwerker, den Offizieren irgendwie nützlich sein oder anderswo eine Chance auf zusätzliches Essen nutzen.

Eine Flucht war völlig ausgeschlossen. Uns trennten hoher Stacheldraht und ein mindestens zwei Meter hoher, dicht gefügter Bretterzaun von der Außenwelt. Von letzterem wußten wir, daß er noch mindestens einen halben Meter tief in die Erde eingelassen war. Der Abstand zwischen den Wachtürmen am Zaun entlang war, unserer „Gefährlichkeit“ entsprechend, sehr dicht. Vier Stunden hatten die Posten hinter dem MG jeweils Dienst und richteten ihren grimmigen Blick auf das Lager. In frostigen Nächten hörten wir ihre Stiefel auf dem Holz, wenn sie versuchten, die Füße warmzuhalten.

Durch den anhaltenden Hunger und die einseitige Ernährung hatten wir schon im ersten Winter Erscheinungen von Vitamin- und Eiweißmangel. Wir bekamen Wasser – zuerst in den Beinen – und Skorbut, litten unter vielen Furunkeln, Krätze und maßlos viel Eiter. Meine Haut wurde schuppig, das Zahnfleisch blau, die Zähne wurden locker, die Haare dünn und die Fingernägel weich. Alle diese Hungerfolgen prägten sich insbesondere bei uns Jugendlichen stark aus und zeigten sich in dieser Form weniger auf der Haut der älteren Häftlinge, bei denen Rose, Bartflechte und ähnliches dominierten.

Mit der Märzsonne, mit Hilfe eines öligen Mittels gegen die Krätze und später mit etwas Melde und Brennessel in der Suppe besserte sich die Situation etwas. Die Krätze aber blieb in der Regel und machte den meisten noch im Sommer schwer zu schaffen. In meinen Beinen stieg in diesem Frühjahr das Wasser bis in die Oberschenkel, machte aber zu meinem Glück vor dem Bauch halt. Gegen das Wasser erhielten wir unregelmäßig einen Kiefernnadelaufguß, der unübertreffbar bitter schmeckte.

Unser erstes Lagerweihnachten ging undramatisch vorbei. Es wurde zu einer wirklich stillen Nacht, weil Gesang verboten war und auch niemand Lust zu einem Weihnachtslied verspürte. Wir nahmen unsere Lage hin und hofften auf baldige Entlassung. Schmerzlicher war Weihnachten für die Männer, die Frauen und Kinder zu Hause hatten. Es gab sichtbare Beispiele dafür. Im Januar/Februar wuchs die Anzahl der täglich Sterbenden, die damals noch auf den Schultern ihrer Träger, nackt oder nur spärlich bedeckt, in ihr Massengrab im nahegelegenen Wäldchen geschleppt und hineingeworfen wurden.

Meine Verfassung in der Zeit des Februar 46 prägte sich mir nachhaltig ein. Schon einige Zeit lief ich auffällig durchs Lager, die Arme in der Waagerechten, weil eine dicke Eiterborke in beiden Achselhöhlen und an den Seiten des Brustkorbes jede andere Armhaltung unmöglich machte, sonst wäre die Borke gerissen und hätte mir Schmerzen bereitet. Zu allem Eiter und den vielen Furunkeln am Kopf, am Gesäß und an den Beinen gesellte sich dann noch ein Riesenabszeß in der linken Leistenbeuge, dessen Oberfläche blaugrün, hart und sehr schmerzend war. Dadurch konnte ich schließlich kaum noch laufen. Das entnervte mich zusehends, nahm mir Kraft und Mut. Bevor man mich am 20. Februar ins Lazarett schleppte, verabschiedete ich mich von einem Kölziger Kumpel, als sähen wir uns zum letzten Mal – mit Gruß nach Hause, falls er durchkommen sollte, und der Übergabe meiner Habseligkeiten.

Im Lazarett, Revier nannten wir es auch, kam ich am nächsten Tag in die Hände von Doktor Rosaljewitsch, des pokkennarbigen russischen Arztes, der wegen seiner Dienste für Wlassow selber Häftling und seltsamerweise noch im Lager verblieben war. Nackt lag ich auf einem gewöhnlichen Tisch. Mit einer Schere brachte er mir einen Schnitt bei. Mein Schrei muß tierisch gewesen sein. Was herauskam, war viel, fast schwarz und roch nicht gut. Nach genauem Hinsehen stellte er in den Achselhöhlen noch je einen Schweißdrüsenabszeß fest. Das Verfahren der Behandlung war das gleiche, und die Schere muß auch dieselbe gewesen sein.

In meinem Krankenzimmer sah ich fast nur Eiternde. Im Raum standen aus Holz gezimmerte schmale Pritschen mit je einem apathisch daliegenden Kranken. Die meisten hatten offene, als Folge von Ödemen geplatzte Beine, die mit Hilfe untergelegter Steine so hoch lagen, daß Bratpfannen oder flache Töpfe darunter Platz hatten. Hier hinein tropfte der stinkende Eiter. Einige wimmerten, jeder schien vor sich hin zu faulen. Behandelt wurde nicht, falls nicht gerade eine Standardsalbe oder Jod passend waren. Ein Sanitäter gab mir einen Platz im hinteren Teil des Rau-mes zwischen zwei Pritschen auf dem Fußboden. Ich überlegte trotz meiner geschundenen Psyche. Klar war mir zweierlei: Zuerst mußte ich hier auf dem schnellsten Wege raus, um nicht für mich den Weg in die Massengräber zwischen Lagerzaun und Autobahn ganz kurz zu machen. Zum zweiten brauchte ich einen Platz auf den Pritschen, um nicht getreten zu werden. Es klingt makaber, aber meine Aufmerksamkeit galt dem rechten Nebenmann. Ich hatte bereits genug Erfahrung, um einschätzen zu können, daß sein leises Stöhnen nicht mehr lange dauern würde. Noch war es wahrnehmbar. Ich versuchte deswegen, nach dem Dunkelwerden wach zu bleiben, um den Sanis zuvorzukommen und die Platzfrage selbst zu regeln. Irgendwann war es dann auch soweit, daß der Kamerad neben mir schließlich ausgelitten hatte. Ich tauschte den Platz mit ihm. Der Vorzug der Pritsche konnte ihm ohnehin nichts mehr nützen. Ich hoffte, daß der Tausch nicht auffallen würde, wenn die Sanis früh kamen. Durch den Tod des Nebenmannes kam ich unverhofft zu seinem letzten Brot, das am Kopfende lag, sowie zu seinen Schuhen. Die Schuhe waren von großem Nutzen, weil meine eigenen mir erst bei der letzten Entlausung weggenommen worden waren und ich immer Angst davor hatte, nur meine selbstgebauten Pantinen an den Füßen zu tragen, wenn es einmal auf Transport gehen sollte.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob mein Umgang mit dem toten Kameraden richtig war. Eine Antwort konnte ich mir nicht geben. Genau ein Jahr danach, im strengen Frost des Februar 1947, war es in Jamlitz normal, daß die nachts Verstorbenen morgens unbekleidet auf ihrer Pritsche lagen. So verbesserte der Tod des einen die Chancen der anderen. In Ketschendorf wußten wir, daß die Sanis Goldzähne an die Russen weitergaben und Speck dafür bekamen.

Meine nächtliche Tat blieb unbemerkt. Der Kumpel wurde hinausgetragen, und ich behielt meinen Platz, ohne daß die Sanis mitbekamen, wer nun wer war. Es ging sowieso alles namenlos zu, wenn man von der Vernehmungsakte jedes einzelnen in der Kommandantur absieht, die mit Sicherheit keinen Vermerk erhielt nach dem Abgang in das Massengrab. Für die meisten der mehr als 4000 in Ketschendorf bis Februar 1947 Umgekommenen begann der Weg dorthin im Lazarett. Von hier kamen die Toten in den hinter dem Gebäude liegenden Erdbunker, zu dem die Ratten ungehindert Zutritt hatten. Ich sah Löcher in den Gliedmaßen der Toten, wenn das Leichenkommando auf dem Weg zum Tor meistens früh am Jugendhaus vorbeikam und Arme oder Beine von den Tragen hingen. Es war täglich die gleiche Zeremonie. Wir entblößten zu Ehren der toten Leidensgenossen unsere Häupter und verharrten still. Auch das wurde Alltag. Ein oben abgeschnittener Zirkuswagen war später dann das Transportmittel für die tägliche tote Fracht nach draußen.

Der Winter ging vorbei, und wir hatten noch lange mit seinen Auswirkungen auf unseren körperlichen Zustand zu tun. Unsere Verfassung war schlecht. Ein Kamerad aus Klein-Köl-zig, sechzehn Jahre alt, litt zunehmend unter Wasser und deswegen unter Durst. Er kannte die damit verbundene Gefahr, widerstand ihr aber nicht. Wir versuchten, ihn zu kontrollieren und vom Trinken abzuhalten. Das Wasser erreichte seinen Bauch, machte den Hoden groß. Nur wenige Tage lebte er noch. Anfang April starb er. Viele aus unserer Gruppe folgten ihm und wurden im Wäldchen an der Autobahn verscharrt.

Ich zählte inzwischen zu den Dystrophikern der Gruppe vier [das war der stärkste Abmagerungsgrad – d. Verf.]. Diese Einstufung nutzte mir allerdings nichts. Ich blieb es für lange Zeit. So abgezehrt war ich, daß meine Mütze beim Herabrutschen an den Backenknochen hängenblieb oder das Wasser aus den Vertiefungen am Schlüsselbein nach dem gelegentlichen Duschen nicht ablief. Die Beine waren spindeldürr, mein Blut war wäßrig und dünn. Die Fingernägel wurden weich, die Haut schuppig. Ich hatte Anzeichen von Skorbut. Mein Kopf schien hundert Ecken zu haben. Die Krätze war noch lange nicht abgeheilt.

Die stärker werdende Sonne half uns. An warmen Tagen saßen wir auf den Fensterbrettern und hielten unseren Allerwertesten in der Hoffnung auf Heilung in die Sonne. Die Furunkulose am Hintern nannten wir Streuselkuchen, weil die Eiterborke so dicht wie Streusel auf einem Kuchen war. Dieses tolle Bild fiel schließlich einem dicken Major unangenehm auf, und er verbot uns diese Art der Therapie. Wir zögerten auch nicht, ohne Hose im Lager herumzulaufen, und hielten uns dabei das Hemd weit vom Leibe, auch unter den Augen der, Frauen aus dem benachbarten Zwinger. Jedes Mittel war uns recht. Dazu zählte selbst der eigene Urin, mit dem wir die kranke Haut behandelten. Das war eine schmerzhafte Prozedur, es brannte und tat gräßlich weh. Urin benutzten manche auch gegen Halsentzündungen, sie gurgelten damit und schworen darauf. Allerdmgs – und dabei hoben sie den Finger – ginge das nur mit gesundem Urin. Wer aber wußte schon, was an uns noch gesund war und was nicht? Den vielen Wucherungen von wildem Fleisch an den überall vorhandenen Furunkeln begegneten wir mit dem Aufstreuen von Zucker. Manche glaubten, Erfolge beobachten zu können. Gegen Wasser schützten wir uns, indem wir eine Kiste an den Ofen stellten, uns auf den Fußboden legten und die Beine auf der Kiste in die Wärme des Ofens hielten. Es gab kaum Medikamente. Den Ärzten stand nicht einmal das Allernotwendigste zur Verfügung. Ihnen begegneten Krankheiten, die es im normalen Leben vielleicht gar nicht gab. Ich sah einmal Fiebertabletten, auch von Wassertabletten war die Rede. Sonst gab es nichts, keine Mittel gegen Durchfall und Ruhr, nichts gegen Erkältungen und Lungenentzündung, kein Verbandsmaterial, nur Jod in verschiedenen Farben. Wir bekamen Fichtennadeltee gegen Wasser, Medigal gegen Krätze sowie die von Doktor Rosaljewitsch erfundene Salbe gegen Furunkel und offene Beine. Zahnbehandlung war unbekannt. Vielen wäre das Leben erhalten geblieben, hätten die Arzte die Möglichkeit gehabt, wäßrige Erscheinungen an Lunge und Rippenfell durch Punktieren zu behandeln. Wir waren der völlig unzulänglichen Lagerhygiene hilflos ausgesetzt. Es gab kein Papier für den bekannten hinterlistigen Zweck. Niemand besaß eine Zahnbürste, jeder hatte Ungeziefer, war schmutzig und mühte sich, den Eiter aus seiner Wäsche hin und wieder mit Wasser zu entfernen. Gelegentlich bekamen wir Waschpulver, wuschen damit unsere Kleidung und säuberten damit auch den Fußboden, worauf von den beiden russischen Lagerärztinnen und vom deutschen Häftlingskommandanten Knoke großer Wert gelegt wurde. Knoke verordnete zusätzlich Backsteine, mit denen wir die Dielen unter Zuhilfenahme von Wasser in einen Zustand zu versetzen hatten, der gehobeltem Holz gleichkam.

Geachtet wurde auch darauf, daß wir regelmäßig kahlgeschoren wurden und auch sonst alle Körperhaare verloren. Die Sanis machten sich mit viel Geschick selbst zwischen den Beinen zu schaffen. Trotzdem verloren sich die Kopf- und Filzläuse nie. Als einzige Wasserquelle stand uns eine Handpumpe zur Verfügung, dazu – außer dem Duschkeller in der Entlausung -während der frostfreien Zeit zwei offene Waschanlagen, wo das Wasser aus durchlöcherten Rohren in eine Krippe lief. Das waren auch die Stellen, wo die Eßgefäße gesäubert wurden, sofern man sie nicht mit den Fingern von den Resten der Suppe befreien mußte.

Ende Mai zeigten sich bei mir Ruhrsymptome, deren deutlichste Form wir im blutigen Stuhl erkannten. Glücklicherweise bestätigte sich der Verdacht bei mir nicht. Der Essensentzug bei Ruhr war die Ursache dafür, daß manche die beginnende Krankheit verheimlichten. Deswegen waren Klosettwachen eingesetzt, die jeden Stuhl zu überprüfen hatten.

.In dieser Zeit lernte ich Marianne Simson kennen, die im Frauenzwinger saß und dem Arbeitskommando angehörte, das im Lazarett Dienst tat. Ich kannte sie als Schauspielerin aus mehreren Filmen. Marianne Simson war eine von etwa 500 Frauen, von der Schülerin bis zur Greisin, die in einem Stacheldrahtzwinger gegenüber unseren Häusern untergebracht waren. Es genügte für die Jüngste die Mitgliedschaft beim BDM, um verhaftet und nach Ketschendorf gebracht zu werden. Es sollen in Ketschendorf drei Kinder geboren worden sein, deren Mütter schon bei der Verhaftung schwanger waren. Die Unterkünfte im Frauenlager waren genauso überbelegt wie bei uns, bis zu vierzig Personen in einem Raum. Einigen Frauen waren die Kopfhaare geschoren worden, vielleicht der Läuse wegen. Allein aus Forst waren zwei Mädchen im Lager, deren Väter unter uns weilten. Max Klein, der im Februar ’47 in Jamlitz umkam, mußte in den Bunker, weil seine sechzehnjährige Tochter ihm ein Stück von ihrem Brot zuwarf, was genauso verboten war wie das Gespräch durch den Stacheldrahtzaun. Ein anderes Mädchen bekam ebenfalls drei Tage wegen eines Stückes Brot für ihren Vater. Die Kom-mandantin des Frauenlagers hieß Hertel.

Im Männerlager befanden sich außer einem Amerikaner zwei Inder, die durch ihre Kopfbedeckung und die braune Hautfarbe auffielen. Diese Tatsache war für uns kaum erstaunlich, denn wir wußten, daß damals schon der Schein genügte, um der Spionage verdächtigt zu werden. In solchem Falle war es dem NKWD völlig egal, ob der Verdacht Inder, Amerikaner oder Deutsche, Kinder oder Greise traf.

In einem der Züge des Hauses 4 lebte noch im Sommer ein Häftliffg – Tee-Großkaufmann in Danzig soll er gewesen sein -, der bei den Verhören nach seiner Verhaftung eine so üble Behandlung erfahren hatte, daß er den Verstand verlor. Ich erlebte ihn seit 1945 nie anders als so: Kopfschüttelnd oder -nickend mit nach vorn gerichtetem Blick, mit immer unruhigen Händen, ständig laufend, gab er fortwährend und monoton von sich: „Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße, nicht stehenbleiben, so schön weitergehen! Stalin Scheiße, Hitler Scheiße, alles Scheiße. . .“ Und das den ganzen Tag, über Monate hinweg. Jeder von uns bedauerte ihn. Ein tragischer Fall, der irgendwann ein Ende durch den Tod fand. Der Mann muß in Ketschendorf geblieben sein, denn er tauchte weder in Jamlitz noch in Neubrandenburg je wieder auf.

Ich holte manchmal Leute in unsere Unterkunft, die uns von ihren Erinnerungen an ihre Berufe erzählten. In der Regel war das mit einer kleinen Brotzuwendung verbunden. So brachten wir Abwechslung in unseren Alltag, der eigentlich aus nichts anderem bestand, als auf die Brot- und Essenholer zu warten, aus Läuseknacken, dem Rundgang auf dem Platz hinter den Häusern 2 und 3 und aus Gesprächen über Themen, die Hungernde bewegen. Ich beschäftigte mich viel mit meiner Nähnadel, konnte auf einfache Weise schließlich stricken, beschäftigte mich mit dem selbstgebauten Schachspiel. Schachspielen war das einzige, was die Sowjets gestatteten. Außerdem lösten wir Kreuzworträtsel, die wir uns untereinander aufgaben. Dazu benutzten wir glatte Brettchen und Stifte aus Aluminiumdraht als Schreibutensilien. Seitdem wir Waschpulver bekamen, hatten wir auch Skatkarten von kleinem Format, die wir aus den Verpackungen anfertigten. Skatspiel und Rätselraten mußten wir allerdings vor den Augen von Knoke, der Sergeanten und der Ärztinnen verborgen halten.

Am 10. Juli 1946 überraschte uns eine große Krätzeuntersuchung. Wir suchten nach Erklärungen für das plötzliche Interesse der Russen an unserer Hautsituation. Natürlich kamen sofort die alten Gerüchte auf. Die einen wollten von einer Entlassung gehört haben, wir müßten nur erst einmal alle gesund sein. Die Pessimisten glaubten wieder an einen Transport nach Rußland. Dieser Tag der Krätzeuntersuchung könnte Pfingsten gewesen sein, genau der Tag, an dem die Freie Deutsche Jugend [FDJ – d. Verf.] in Brandenburg an der Ha-vel ihr Gründungsparlament durchführte und eine neue Politikergeneration gebar. Davon wußten wir nichts, aber es verhielt sich doch so: Nicht alle durften am neuen Leben teilnehmen. Wir waren bei ständiger Lebensgefahr dazu verdammt, für die politischen Fehler unserer Elterngeneration zu büßen, unabhängig davon, ob die Väter Nationalsozialisten oder Kommunisten waren, und wir hatten schließlich auch zu büßen für die im deutschen Namen während des Krieges begangenen Verbrechen an Leben und Freiheit ebenso unschuldiger Menschen, wie wir es waren.

Wir wußten überhaupt nicht mehr, was draußen geschah, seitdem die Zugänge aus den Gefängnissen und GPU-Kellern ausblieben. Aus Losungen, die auf Waggons der am Lager vorbeiführenden Eisenbahn gemalt waren, erfuhren wir, daß es draußen eine neue Partei gab, daß eine Wahl stattfand und Listen dabei eine Rolle spielten. Mehr aber blieb uns durch unsere hermetische Abschottung von der Außenwelt verborgen. Wir wußten nichts von unseren Familien, sie wußten nichts von uns. Für alle war das hart.

Wir gingen dem zweiten Ketschendorfer Winter entgegen. Er sollte nicht nur von den Temperaturen her schlimm werden. Die Rationen waren seit dem 4. November 1946 stark herabgesetzt worden. Dafür sollte es einen Befehl der obersten russischen Verwaltung gegeben haben. Später erfuhren wir, daß auch die Häftlinge in Jamlitz von dieser Essenskürzung überrascht worden waren. Die Brotportion betrug fortan nur noch um die 300 Gramm, die Suppe verlor schlagartig ihre festen Bestandteile. Diese Verschlechterung des Essens traf uns böse. Wir versuchten auszurechnen, für wie viele Wochen die Kraft noch reichen würde.

Illusionen hatte niemand. Die Hoffnung, zu überleben, verringerte sich ständig. An eine Entlassung glaubte zu dieser Zeit kaum noch jemand. Das Stimmungstief war deutlich. Daran konnten auch die bei Häftlingen älterer Jahrgänge mit den Namen von Frau und Kindern oder dem Ruf „Heim zu Mutti!“ bestickten Jacken und Mäntel nichts ändern. In diesem Winter lag für die meisten der Gedanke näher, daß niemand mehr aus dem Lager herauskommen würde. Zu viele waren schon ihren letzten Weg in die Massengräber im Wald gegangen. Ende 1946 entstand als Folge von Hunger und Kälte eine allgemeine Resignation.

Unsere Kleidung war zu dieser Zeit naturgemäß schon mehr als dürftig, denn wir trugen ja Tag und Nacht dieselben Sachen auf dem Körper, weil wir auf bloßen Brettern oder anfangs lange Zeit auf dem Betonfußboden der Keller lagen. Neue Sachen wurden nur in dem Maße verteilt, wie Verstorbene noch Brauchbares hinterließen. Viele von uns steckten auch in abgetragenen Sommeruniformen der Russen. Alle Gewebe waren durch die zahlreichen Entlausungen dünn geworden. Die Unterwäsche war steif vor Dreck. Ich erinnere mich, daß mein Hemd durch den Eiter stand. Auch Hosen habe ich stehen sehen. Waschen im Winter war unmöglich.
(…)
Der Häftlingskommandant in Ketschendorf hieß Kasimir. Er war selber Häftling, stammte aus einem der baltischen Länder, war Deutscher, sehr ernst, schon etwas älter und trug einen halbsteifen Hut, einen sauberen Anzug und einen Mantel mit Pelzkragen. So kannten wir ihn aus ungezählten Gängen durch das Lager. Er genoß Autorität bei uns, anders als beispielsweise „Bello“ Schröder, Polizeioffizier und einer dieser privilegierten Halunken der alten Güte, der Kasimirs Vertreter war und dem auch der Lagerschutz unterstand; Offizierstypen, die, wie Henry Knoke, Polizeichef aus Hannover und unser Hauskommandant, ausgesucht waren, um übereifrig eine Ordnung zu sichern, die uns das Leben noch schwerer machte. Zu diesen uniformierten Postenträgern zählten auch Bruchmann, Sprecher des `Großdeutschen Rundfunks´, oder Siebert, Kriegsgerichtsrat der Nazis, der, wie andere auch, noch in seiner alten Uniform steckte und Langschäfter trug. Sie alle hatten sich gefunden, weil sie sich kannten. Sie lebten von Essennachschlägen, froren nicht, waren sauber und ließen sich nicht nehmen, was ihr Privileg war.
(…)
Anfang 1947 war wieder die Rede von Transporten. Am 16. Januar war ich an der Reihe. Neben einer Anzahl „Alter“ wurden mit wenigen Ausnahmen alle A-Züge aufgerufen und nochmals entlaust. Zu diesen Zügen gehörten alle Jugendlichen, die am Tage ihrer Einlieferung in Ketschendorf noch nicht sechzehn Jahre alt waren. Die beiden jüngsten von uns waren zwölf und dreizehn Jahre bei ihrer Verhaftung. Sie wurden gleich nach dem Einmarsch der Russen aufgegriffen und gingen in ihrer Sommerkleidung den Weg nach Ketschendorf. Ich sah sie noch im November fünfundvierzig mit kurzen Hosen. Wenige Wochen später waren beide tot.

Die B-Züge, dazu gehörten die Jugendlichen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren, waren für diesen Transport nicht vorgesehen. Wie ich später erfuhr, brachte man sie nach unserem Abtransport in das Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg. Uns aber schaffte man nach Jamlitz…“

Anfang 1947 begann die Auflösung des Lagers. Die Häftlinge wurden nach Frankfurt/Oder, Jamlitz, Mühlberg und Fünfeichen transportiert. 2000 kamen in sowjetische Zwangsarbeitslager. Am 17. Februar 1947 wurde das Lager endgültig aufgelöst. Ein Restkommando von 50 Internierten mußte im April 1947 ins KZ Buchenwald. Mindestens 6000 Häftlinge sind infolge der Haftbedingungen in Ketschendorf gestorben.

Im Frühjahr 1952 sollten im Fürstenwalder Ortsteil Ketschendorf Wohnhäuser gebaut werden. Als Arbeiter die Fundamente ausschachteten, stießen sie auf die Überreste Hunderter von Leichen. Um Aufsehen zu vermeiden, wurde das Gelände) abgeriegelt; ein großer Teil der Toten sollte möglichst unauffällig abtransportiert und umgebettet werden. Viele Fürstenwalder wußten aber, wer da unter der Erde lag: Häftlinge des sowjetischen Internierungslagers Ketschendorf.

Vom März bis zum Mai kamen mehr als dreißigmal Lastwagen mit Holzkisten zum Waldfriedhof Halbe. ln diesen Kisten befanden sich Überreste von Menschen in stark verwestem Zustand. Die Leichen wurden, ohne daß man sie sorgfältig zählte oder gar identifizierte, in Massengräbern verscharrt. Beamte des Staatssicherheitsdienstes überwachten das Ganze. Mehr als 3000 Leichen wurden in Massengräber auf dem Friedhof Halbe verscharrt und mit falschen Inschriften versehen. „Unbekannt April 1945“ ist auf den Steinen im Gräberfeld 9 zu lesen. Später wurde bekannt, woher die Toten stammten: aus Ketschendorf.

Auf dem Gelände des ehemaligen Internierungslagers befindet sich heute ein „Platz der Freiheit“. Doch nicht alle Ketschendorf-Opfer wurden damals umgebettet. Ein Teil der dort errichteten Neubauten an diesem Platz stehen auf einem Fundament aus Hunderten von Leichen.

Vom Faschist zum Antifaschist

BEISPIELE FÜR FASCHISTISCHE FUNKTTIONSTRÄGER, DIE IN DER DDR ZU NEUEN EHREN KAMEN.

Im Jahre 1948 verkündete die SMAD mit dem Befehl Nr. 64 das Ende der Enteignung und mit dem Befehl Nr. 35 das Ende der Entnazifizierung. Nach Einschätzung der Verantwortlichen war der „volkseigene Sektor“ vorerst groß genug, und andauernde Auseinandersetzungen in dieser Frage würden nur Unruhe ins Bürgertum tragen. Im Zeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges war das bündnispolitisch unerwünscht.

Von 1945 bis 1948 waren 520.000 Mitglieder der NSDAP aus allen Bereichen der Verwaltung und der Industrie der Sowjetischen Besatzungszone entfernt worden.

Einfache NSDAP-Mitglieder und Mitläufer erhielten bereits im August 1947 ihr aktives und passives Wahlrecht wieder, nachdem im September 1946 die ersten Gemeindewahlen, im Oktober 1946 die ersten Wahlen zu den Land- und Kreistagen in der Sowjetischen Besatzungszone stattgefunden hatten. 1953 zählte die SED etwa 150.000 Mitglieder, die ehemalige Wehrmachtsangehörige im Offiziers- bzw. Unteroffiziersrang waren oder der NSDAP bzw. einer ihrer Gliederungen angehört hatten. Im Mai 1948 wurde für einen Teil ehemaliger Nazis die NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) als weitere Blockpartei gegründet, die bis zum Ende der DDR in der Volkskammer mitregierte.

Im Jahre 1965 waren so noch 53 Alt-Nazis Abgeordnete der Volkskammer, 12 Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, 2 Mitglieder des Staatsrates der DDR und 5 besaßen Landesministerposten. Etliche Alt-Nazis halfen beim Aufbau der „Volkspolizei“ und der NVA. In den Medien besaßen sie großen Einfluß. Sie bekleideten die Stellungen von Chefredakteuren und bildeten z.B. in den Redaktionen des „Neuen Deutschland“ und der „Deutschen Außenpolitik“ eigene Arbeitsgruppen. In all diesen „roten“ Institutionen ließen sich Nazis finden, dort gab es ehemalige SS-Mitglieder, SA-Führer, Vertrauensleute der Gestapo, Angehörige von Propagandakompanien, Mitarbeiter des NS-Rundfunks, des „Völkischen Beobachters“, des „Schwarzen Korps“, Beamte des Propagandaministeriums, Mitglieder des „SS-Rasse und Siedlungs-Hauptamtes“, Angehörige der „Legion Condor“.

5 Beispiele:

E. GroBmann (SED): bis 1959 Mitglied des ZK der S8D, bis
1963 Abgeordneter des Bezirkstages
Erfurt, Vorsitzender der LPG
‚Walter Ulbricht‘ in Merxieben, Held
der Arbeit
vor 1945: 1938 Mitglied der NSDAP, Mitglied des
Sudetendeutschen Freikorps, 1940 SS
Totenkopfwerband in Sachsenhausen,
Wachmannschaft des KZ Sachsenhausen,
SS?Unterscharführer

A. von Lenski (NDPD): 1952?1958 Generalmajor der VP bzw. NVA
Abgeordneter der Volkskammer,
Hauptausschuß der NDPD, Vaterländischer
Verdienstorden, Verdienstmedallle der
NVA, Medeille für Kämpfer gegen den
Faschismus,
vor 1945: Berufsoffizier der Wehrmacht, zuletzt
Generalmajor und Kommandeur der 24.
Panzerdvision, 1939?1942 mitglied des
Volksgerichtshofes‘ in Berlin ? Nachweislich an 20 Terrorurteilen beteiligt

H. Neukirchen (SED): 1962/1963 Chef der Volksmarine der DDR,
Vizeadmiral der NVA, Verdienstmedeille
vor 1945: 1944/1945 Führungsoffizier der
Wehrmacht, 1936 Teilnehmer am
spanischen Bürgerkrieg auf
faschistischer Seite (Kreuzer Köln)

K. Säuberlich (SED): 1954?1958 Abgeordneter der Volkskammer,
Leiter einer Forschungsstelle in der
“Maxhütte“, Zehnfacher Aktivist,
Nationalpreisträger
vor 1945: 1930 Mitglied der NSDAP, 1937 Eintritt
in die SS, SD Leitabschnitt Dresden,
SS Obersturmführer

R.Tappert (SED): Oberst der Nationalen Volksarmee,
Verdienstmedeille der DDR
vor 1945: 1933 Mitglied der NSDAP und Eintritt in
die SS, SS?Scharfführer im
Sicherheitshauptamt des Reichsfahrers
SS-Leibstandarde Adolf Hitler, SS-Infanterie Regiment 6

Quelle: „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“