Prozesse gegen Skinheads in der DDR

Von Ende November 1987 bis Anfang Juli 1988 haben in der DDR mindestens neun Prozesse gegen Nazis-Skinheads und Neofaschisten vor Kreisgerichten (bzw. in einem Fall in zweiter Instanz vor einem Bezirksgericht) stattgefunden, in denen 49 Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren wegen zahlreicher Gewaltakte und auch wegen Handlungen mit rechtsradikalem Hintergrund abgeurteilt wurden. Der erste dieser Prozesse führte am 4. Dezember 1987 zur Verurteilung von vier Skinheads, die sich an den Gewalttätigkeiten gegen Besucher der Zions-Kirche in Ost-Berlin am 17. Oktober 1987 beteiligt hatten, durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte zu Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren, die auf den Protest der Staatsanwaltschaft am 22. Dezember vom Stadtgericht Berlin auf zwei bis vier Jahre erhöht wurden. Im Dezember 1987, nach dem ersten Prozeß vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, kündigte der Generalstaatsanwalt der DDR acht weitere Prozesse gegen Skinheads an.

In der Zeit von Februar bis Juli 1988 wurden folgende Urteile gegen Skinheads verhängt (die Auflistung ist mit Sicherheit unvollständig):

* 3.2.1988: Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte gegen acht weitere Beteiligte an den Gewalttätigkeiten gegen Besucher der Zions-Kirche am 17.10.1987 (1¼ bis 1½ Jahre).
* 19.2. 1988: Urteil des Kreisgerichts Weißenfels gegen drei Personen (2 bis 5½ Jahre; rechtsradikaler politischer Hintergrund fraglich).
* 25.3.1988: Urteil des Kreisgerichts Dresden-Nord gegen vier Personen (1 bis 1½ Jahre).
* April 1988: Urteil des Kreisgerichts Halle gegen sieben Personen (5 bis 12 Monate; rechtsradikaler politischer Hintergrund fraglich).
* 11.5.1988: Urteil des Kreisgerichts Oranien-burg gegen neun Personen (1¾ bis 6½ Jahre).
* 1.6.1988: Urteil des Kreisgerichts Cottbus gegen acht Personen (1 Jahr 2 Monate bis 2 Jahre).
* 22.6.1988: Urteil des Kreisgerichts Dresden-Nord gegen eine Person (2 Jahre).
* 5.7.1988: Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Prenzlauer Berg gegen fünf Personen (2½ bis 6½ Jahre; diese Urteile gehören nicht zu den im Dezember 1987 angekündigten Strafverfahren, da die Verurteilten erst am 5. März 1988 verhaftet worden waren).

Insgesamt ergibt sich damit eine Zahl von mindestens 39 Verurteilten für die Zeit von Ende November 1987 bis Anfang Juli 1988, denen neben Gewalttätigkeiten und anderen gewöhnlichen Kriminaldelikten auch Bekundungen einer neonazistischen Gesinnung vorgeworfen wurden. In den von den DDR-Medien publizierten Gerichtsberichten über zwei Prozesse gegen weitere zehnVerurteilte (Kreisgerichte Weißenfels und Halle) wurde zwar der Begriff „Skin-head“ verwendet, von Delikten mit neonazistischem Hintergrund war dort aber nicht die Rede. Im November 1987 schätzten westliche Beobachter die Zahl der Skinheads in Ost-Berlin auf etwa hundert Personen, zu denen noch eine Gruppe in und um Dresden kommt (ebenfalls ca. hundert Personen). Eine erheblich höhere Zahl rechtsradikaler Jugendlicher nannte der Schriftsteller Rolf Schneider auf dem Kirchentag in Halle (23.-26. Juni 1988). Er behauptete , daß sich in der DDR 1500 junge Leute selbst als „Neonazis“ bezeichnen“; über die Quelle, aus der diese Zahl stammen soll und wie sie ermittelt wurde, war allerdings bisher nichts zu erfahren. Prozesse wegen „Rowdytums“ (§ 215 StGB der DDR) und Berichte darüber in den dortigen Medien sind in der DDR nicht allzu selten. Überwiegend wurde dabei gegen Täter wegen unpolitischer krimineller Delikte verhandelt. Gelegentlich allerdings kam diese Strafbestirnmung auch gegen Regimekritiker zur Anwendung, die mit Neonazismus nicht das geringste zu tun haben, denen die Strafverfolgungsorgane angeblich illegale Demonstrationen für Ausreise, Meinungsfreiheit usw. vorwarfen und die mit der Klassifizierung als „Rowdies“ kriminalisiert werden sollten (ein seit langer Zeit auch in der Sowjetunion übliches Verfahren, Regimekritiker als Kriminelle abzustempeln). Bis Ende November 1987 gab es – zumindest in den in der DDR veröffentlichten Gerichtsberichten – keine Hinweise auf irgendwelche rechtsradikalen Hintergründe der Delikte von Rowdies bzw. Skinheads. Vereinzelte antisemitische Friedhofsschändungen in der DDR sind in den siebziger Jahren bekanntgeworden (Zittau, Potsdam, Dresden).

Nachrichten über gelegentliche neonazistische Äußerungen von Jugendlichen in der DDR (rassistische Beschimpfungen und Bedrohungen, Hakenkreuzschmierereien, Judenwitze, Türkenwitze), aber auch über Überfälle von Skinheads auf Gruppen der unabhängigen Friedensbewegung und auf Umweltschützer gab es auch schon vor dem November 1987, allerdings niemals in den DDR-Medien. “ In den bekanntgewordenen Prozessen kamen u.a. die Paragraphen 212 (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen), 215 (Rowdytum) und 220 (öffentliche Herabwürdigung) des StGB zur Anwendung; der Strafrahmen reicht (sofern auch der schwere Fall nach § 216 vorliegt) bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Den Verurteilten wurden neben zahlreichen Delikten der gewöhnlichen Kriminalität (Körperverletzung, Diebstahl, Kfz-Diebstahl, Urkundenfälschung, Sachbeschädigung) rassistische Beschimpfungen, „Verbreitung faschistischen Gedankenguts“, das Abspielen von „verbotener Musik“ (möglicherweise Nazilieder und Militärmusik aus der NS-Zeit), der Hitler-Gruß, das Rufen faschistischer Parolen, das Zeigen faschistischer Symbole, die Schändung jüdischer Gräber (auf dem jüdischen Friedhof im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg) sowie Angriffe auf Volkspolizei-Angehörige vorgeworfen.

Die Sicherheitsorgane der DDR hatten die Umtriebe der Skinheads bis zum Spätherbst 1987 zunächst mit erstaunlicher Gelassenheit behandelt. Augenzeugen berichteten, Volkspolizisten hätten den Angriffen der Skinheads auf Besucher der Zions-Kirche am 17. Oktober 1987 zugesehen, ohne einzugreifen. In dem Prozeß vor dem Kreisgericht Oranienburg Mitte Mai 1988 gegen neun Mitglieder der „Skinhead-Gruppe Velten/Henningsdorf“ wurde bekannt, daß diese Gruppe das Umland von Berlin bis hin nach Potsdam während des ganzen Jahres 1987 mit Gewalttätigkeiten überzogen hatten. Nach der Verschärfung der relativ milden Strafen, die das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte am 4. Dezember 1987 verhängt hatte, durch das Stadtgericht Berlin am 22. Dezember schlug die DDR-Justiz eine deutlich härtere Gangart ein und verfuhr seitdem nach dem Grundsatz, „daß in der DDR derartige Ausschreitungen keinen Boden haben, auf das schärfste verurteilt und entsprechend der Rechtsordnung unseres Landes mit aller Konsequenz geahndet werdend“.

Wenn es um die Suche nach den Ursachen für das Phänomen der rechtsradikalen Skinheads in der DDR geht, wurde immer wieder von offizieller Seite erklärt, dieses Verhalten hätte in der Realität der DDR keine Wurzel und sei vielmehr von Skinheads aus West-Berlin und der Bundesrepublik hereingetragen worden (so z.B. der Anklagevertreter am 30. Juni vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Prenzlauer Berg). Diese Unterstellung, erweitert meist durch eine Schuldzuweisung an die westlichen elektronischen Medien, zieht sich durch sämtliche Gerichtsberichte und Kommentare in der DDR über diese Prozesse. Die Angriffe der Skinheads (nach einigen Berichten 25 bis 30, nach anderen bis zu 100) auf die Besucher der Zions-Kirche am 17. Oktober 1987 seien, so wurde im „Neues Deutschland behauptet, von 15 Skin-heads aus West-Berlin und deren Anführer angeheizt worden. Der Generalstaatsanwalt der DDR hat deshalb auch am 15. Februar 1988 ein Rechtshilfeersuchen an den Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht in West-Berlin gerichtet^; ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Beteiligte war in West-Berlin bereits Anfang Januar eingeleitet worden. Kirchliche Beobachter, z. B. der Ost-Berliner evangelische Stadtjugendpfarrer Hülsemann, räumten zwar Einflüsse aus dem Westen ein, machten für die Vorfalle aber auch Mängel im Erziehungswesen der DDR verantwortlich. Der Versuch, die westlichen Medien (z.B. vor allem das Fernsehen im Falle der Friedhofsschänder von Berlin-Prenzlauer Berg) für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen, ist insofern besonders bösartig, weil in einer Demokratie Nachrichten über rechtsradikale Umtriebe in den Medien aus guten Gründen nicht unterdrückt werden können. Wenn vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte Anfang Februar lang und breit die angebliche Rädelsführerrolle von Skinheads aus West-Berlin am 17. Oktober 1987 geschildert wurde, drängt sich die Frage auf, wie es denn im Oktober 1987 mit der Wachsamkeit der Kontrollorgane der DDR an der Berliner Sektorengrenze bestellt war oder ob die West-Berliner Skinheads gar damals maskiert als brave Biedermänner in den Ostteil der Stadt eingesickert sind.

Die DDR-Führung hat darüber hinaus versucht, die Skinheads mit Regimekritikern, Friedensgruppen, Ausreisewilligen usw., denen keinerlei rechtsradikale Handlungen oder Gesinnungen vorgeworfen werden können, unter dem Sammelbegriff „Feinde des Sozialismus“ in einen Topf zu werfen, um so die allgemeine Ablehnung gegen die Skinheads innerhalb und außerhalb der DDR auch gegen Regimekritiker und Ausreisewillige zu richten. In dieser Art und Weise argumentierten das Politbüro auf der 5. Plenartagung des ZK der SED am 16. Dezember 1987 und der Chefredakteur der FDJ-Zei-tung „JungeWelt“, Hans-Dieter Schutt. Auch zur Legitimierung des Grenzregimes der DDR müssen die Taten der Skinheads in Ost-Berlin und Umgebung herhalten, weil angeblich hier der Einfluß westlicher Skinheads gewirkt habe und künftig abgewehrt werden müsse. Dieser Einfluß, soweit vorhanden, beweist übrigens erneut, daß das Grenzregime der DDR in seiner heutigen Form nicht in erster Linie zur Abschirmung der DDR gegen unerwünschte Einflüsse . aus dem Westen dient, sondern wie eh und je vor allem die DDR-Bevölkerung an der Abwanderung nach Westen hindern soll. Unter den Verurteilten der Skinhead-Prozesse findet man sowohl Jugendliche aus gestörten Familienverhältnissen, mit schlechter Schul-und Berufsbildung und Vorbestrafte als auch solche mit normaler Entwicklung, guten Leistungen in Schule und Beruf (der sechzehnjährige Hauptangeklagte im Prozeß gegen die Friedhofsschänder von Berlin-Prenzlauer Berg war sogar zeitweilig FDJ-Sekretär). Allerdings waren darunter – soweit den in der DDR veröffentlichten Gerichtsberichten zu entnehmen ist – keine Schüler aus Erweiterten Oberschulen oder Studenten. Es fällt auf, daß gerade besonders junge Skinheads, z.B. die fünf 15- bis 17jährigen im Prozeß in Berlin-Prenzlauer Berg, mit besonderer Intensität zu Werke gingen. Das mag mit ein Grund dafür sein, daß selbst in den Berichten und Kommentaren der DDR-Medien immer wieder nach der Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts und der sonstigen politischen Erziehung in den Schulen gefragt wird. Offenkundig können es sich die offiziellen Beobachter der Prozesse nicht erklären, warum bei einer nicht mehr ganz geringen Anzahl von Jugendlichen die nach Umfang und Inhalt durchaus anerkennenswerte antifaschistische Erziehung in den Schulen nicht ankommt. Sollte das daran liegen, daß mit der Erfolglosigkeit der ideologischen Erziehung insgesamt gerade unter der Jugend das dabei mit vermittelte antifaschistische Gedankengut auch nicht mehr angenommen wird, daß vielleicht.