Kommentar: Die Gedenkfeiern zur NS-Pogromnacht – Ein Musterbeispiel staatlicher Geschichtsaufarbeitung

Umweltblätter vom Dezember 1988

– aus der linken DDR-Oppositions-Zeitung Umweltblätter, vom Dezember 1988 –

Allerorts und auf Anweisung der Staats- und Parteiführung der DDR wird der Opfer der Pogromnacht vorn 9./10. November 1933 gegenwärtig gedacht. Es finden zahlreiche Kolloquien, Tagungen und sogar eine Volkskammersitzung zu diesem Thema statt. Dazu wäre an sich nichts einzuwenden, würde nicht das Kampagnenhafte und Unwahrhaftige dieser Aktivitäten offenbar. Es braucht in diesem Zusammenhang sicher nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß die Verfolgung, Vertreibung und physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, gleich welcher sozialen Zugehörigkeit selbstverständlich zu verurteilen ist und eben aufarbeitungswürdig erscheint. Gerade weil die Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung als Massenaktion und in aller Öffentlichkeit geschah, wäre eine tatsächliche Auseinandersetzung einschließlich der Frage nach den Ursachen dieser Ereignisse von dringender Notwendigkeit. Aber genau- dies geschieht bis heute nicht, da damit aktuelle Fragestellungen verbunden sind, die als bedrohlich von den Herrschenden empfunden werden.

Obwohl es nicht einfach ist, angesichts der damaligen faschistischen Massenmorde eine nüchterne Einschätzung zu geben, will ich dennoch versuchen, die gegenwärtige offizielle „Vergangenheitsbewältigung“ zu analysieren. Wie sieht diese also aus?‘

1. Das Gedenken an die jüdischen Opfer des Faschismus wird offiziell verbunden mit der Würdigung jüdischer Geisteswissenschaftler. Erinnert wird an hervorragende wissenschaftliche Erkenntnisse und Potenzen, die durch die Judenverfolgung der Menschheit verloren gegangen sind. Ohne Zweifel. trifft dies auf verschiedene Personen zu. Dennoch wäre eine differenzierte Bewertung von einer Parteiführung, die sich auf den Marxismus beruft, zu erwarten gewesen. Plötzlich erscheint allein die Zugehörigkeit zur jüdischen Bevölkerungsgruppe als Ausweis für wissenschaftliche Verdienste und demzufolge verehrungswürdig. Als völlig belanglos erscheint hingegen die Tatsache, daß eine große Anzahl von Wissenschaftlern und angesehenen Persönlichkeiten sich in den Dienst der herrschenden Klassen des Kaiserreiches und/oder der Weimarer Republik stellten. Viele von ihnen waren konservativer, deutschnationaler Gesinnung, wie z.B. der Altertumswissenschaftler Eduard Norden. Die Feststellung, daß diese Gelehrten auf der anderen Seite der Barrikade, z.B. im November 1918 standen, und auch jüdische Unternehmer gemeinsam mit ihren “arischen'“ Kollegen sehr wohl ihre Interessen gegenüber der Arbeiterschaft durchzusetzen verstanden, berührt überhaupt nicht die Frage der Verurteilung des faschistischen Massenmordes, aber sie wäre von dieser Parteiführung, gemessen an ihrem Anspruch, zu messen gewesen. Wo bleiben in den offiziellen Gedenkreden die ca. 21.000 Arbeiter, auf deren Interessenvertretung sich die Staatsrührung doch sonst beruft? Wo wird die Tatsache erwähnt, daß diese jüdischen Arbeiter auch von Unternehmern gleichen Glaubens ausgebeutet‘ und deren Existenzgrundlagen ständig gefährdet waren? Wie kann denn sonst die häufig gestellte „Frage beantwortet werden, warum sich kein jüdischer Widerstand größeren Ausmaßes organisiert hätte, ‚wenn nicht durch die Feststellung, daß die jüdische Bevölkerung durch genau dieselben Interessenkonflikte gekennzeichnet war, wie die gesamte Gesellschaft. Ein Bankier setzt sich nicht an den Tisch, eines Arbeiters oder unterprivilegierten verarmten jüdischen Kleinhändler.

Die Nationalsozialisten machten die jüdische Bevölkerung ihrer Abstammung nach, unabhängig von ihrer sozialen Lage und ihrer Gesinnung, gleich, und diese Schablone erfährt gegenwärtig ihren aktuellen Aufguss.

2. Die Untersuchung des staatlichen Terrors, dem 6 Millionen Juden zum Opfer fielen, muß sich mit der Frage nach den Ursachen staatlicher Gewalt überhaupt verbinden. Die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten diente zum einen der Finanzierung der Rüstungsproduktion (Einziehung jüdischen Vermögens und „Sühnezahlung“ von 1 Mrd. Reichsmark), und andererseits sollten soziale Konflikte und Unrechtserfahrungen in den Judenhass kanalisiert werden, wie insgesamt Anderssein und Andersdenken zur Ausgrenzung – bis zur physischen – führte. Dies war ein Schritt zur psychischen Mobilmachung der deutschen Bevölkerung für den Krieg und die Festigung des Herrschaftssystems.

Nach dem Zusammenbruch des Faschismus wäre eine .Auseinandersetzung als Aufbauleistung darüber notwendig gewesen, wie zukünftig verhindert werden kann, daß sich staatliche Gewalt wiederum etabliert und sich dem Zugriff der Bevölkerung entzieht. Es ist letztlich die Frage nach der Kontrolle des Staates. Daß eine solche Diskussion auf breitester demokratischer Grundlage keineswegs den nunmehr zur Macht Gelangenden genehm sein konnte, denjenigen nämlich, deren wirtschaftliche und politische Macht per staatliche Gewalt und ohne demokratischen Konsens abgesichert war, ist heute offensichtlich. Demokratische Bestrebungen in dieser Richtung wurden von Anbeginn an unterbunden. Immerhin ließ sich eine eingeschüchterte und demoralisierte Bevölkerung viel bequemer in das neue System integrieren als eine selbstbewusste, ihre Interessen anmeldende und fordernde.

Eine Staatsmacht, die die Verfolgung von Andersdenkenden seit Jahrzehnten praktiziert (erinnert sei nur allein in diesem Jahr an die Ereignisse des 17. Januar, die Zensurma߬nahmen gegenüber Kirchenzeitungen oder die Relegierungen von Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule…), kann sich nicht ernsthaft der Frage von Gewaltherrschaft und den daraus zu ziehenden Konsequenzen (im Sinne von Aufarbeitung nämlich) stellen. Deshalb bleibt das demonstrativ zur Schau gestellte Mitgefühl der Partei- und Staatsführung mit den Verfolgten des Naziregimes (auch wenn sie. einmal dazu gehörten, so haben sie sich doch von den tatsächlich Werktätigen meilenweit entfernt) unwahrhaftig, weil nicht an die Substanz gehend und jede aktuelle Fragestellung vermeidend. Diese offiziellen Bekundungen sollen auf internationalem Parkett der eigenen Profilierung als Demokraten dienen und politische und wirtschaftliche Einflußsphären gewinnen helfen. Die von uns hofierten jüdischen Organisationen und ihre Vertreter haben ein erhebliches ökonomisches Potential hinter sich und spielen z.B. auf dem Kredit¬markt eine wichtige Rolle.

Die Opfer des Naziterrors sollen dazu herhalten, von den Problemen – auch international – abzulenken. Daß sich dafür sogar die Kirchenleitung, vertreten durch Konsistorialpräsident Stolpe, hergibt, der anlässlich des Fürbittgottesdienstes am 4.11.88 in der Gethsemanekirche für die gemaßregelten und schließlich zum Teil relegierten Schüler der Carl-von-Ossietzky-Schule dazu ermahnte, sich während der Friedensdekade doch der Opfer des Faschismus zu erinnern und nicht die aktuellen Ereignisse in den Vordergrund treten zu lassen, muß sehr erstaunen. Wer zwischen diesen Ereignissen keine tieferliegende Beziehung sehen will (ohne damit diese Gesellschaft dem Faschismus gleichzusetzen, das wäre angesichts des damaligen Leidens und Sterbens vermessen und ist auch von den sozialen Grundlagen her falsch), keine ähnlich wirkenden Mechanismen, der kann eine tatsächliche Aufarbeitung nur oberflächlich nachvollziehen. In diesen Punkt hat scheinbar die Kirche Nachholbedarf.

3. Die Gedenkveranstaltungen der Staatsführung sollen international demonstrieren, daß in der DDR eine Verfolgung aus rassischen oder Glaubensgründen nicht mehr möglich sei, da Verfassungsgrundsatz. Unerwähnt bleibt, daß Glaubensgemeinschaften auch den rechten Zuschnitt haben müssen, uns nicht diskriminiert zu werden. Wie sich diesen Zuschnitt die Staatsführung vorstellt, wird in der groß aufgemachten Erklärung der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ in der DDR, landesweit publiziert, deutlich. Zunächst wird die Übereinstimmung ihrer Ziele mit denen der staatlichen Politik festgestellt. Weiter heißt es: „Heilige der Letzten Tage sind niemals ‚Aussteiger‘, sondern positiv und optimistisch im Denken und Handeln… Die Kirche steht grundsätzlich niemandem zur Verfügung, der bei ihr eine Plattform oder ein Dach für Opposition sucht, oder um `Sonder- und Gruppenziele‘ zu verfolgen, die mit den Aufgaben der Kirchen und deren erklärten Zielen überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind… Die Kirche ist keine politische oder gesellschaftliche Organisation.“ (ND, 29./30.10.88) Daher unterstützen sie jede staatliche Obrigkeit, die ‚ihnen das Recht gewährt, ihren Glauben auszuüben. Eine solch konforme Haltung wird auch prompt vom Staat belohnt. Wie sie selbst schreiben, sind viele neue Gemeindehäuser in letzter Zeit entstanden und sollen weitere folgen (ebenda). Dies sind deutliche Worte an diejenigen Gemeinden, die sich nicht dem Staate untertan machen, sondern sich als kritische Partner verstehen. Für Kirchenmitglieder, die auf eigener Meinung bestehen, die sich gegen Zensurmaßnahmen gegenüber Kirchenblättern und andere Behinderungen wehren, die den Wehrdienst nicht mit der Waffe in der Hand versehen wollen u.a.m., gilt der Verfassungsgrundsatz nicht. Sie sollen aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden, und gegen sie richtet sich staatliche Gewalt. So sieht die Vergangenheitsbewältigung und -aufarbeitung seitens der Staatsführung aus.

Setzen wir dagegen tatsächliche Solidarität mit den Gemaßregelten und Verfolgten staatlicher Gewalt vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeiten. Leisten wir aktive Erinnerungsarbeit.

n.n.