Antifa in den 1980er Jahren

Seit 1983 nahmen die offenen Aktivitäten von faschistischen Gruppen, zum größten Teil rechtsgerichtete Skinheads und Fußballfans, sprunghaft zu. Es kam immer wieder zu Überfällen auf Ausländerinnen, Punks, linksalternativ Gekleidete und Oppositionelle. In dieser Zeit bildeten sich auch feste faschistische Gruppierungen, die sich zum Beispiel „Bewegung 30. Januar“ (in Anlehnung an die Machtergreifung der Nazis am 30.1.1933) oder „Bucher Front“ nannten. Die faschistischen Gruppen hatten damals bereits Kontakte mit Westberliner Faschisten, die in der Folgezeit intensiviert wurden.

Der Überfall von Nazi-Skinheads auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987, hatte in zweierlei Hinsicht Signalwirkung. Zum einen erhöhte sich die zahl der offenen Übergriffe von Nazis und Skinheads zum anderen regte sich erstmals selbstorganisierten Widerstand.

Gründungsversuch einer Anti-Nazi-Liga in Berlin 1987

In Berlin findet sich unmittelbar nach dem Überfall auf die Zions-Kirche eine Gruppe betroffener zusammen, um eine Anti-Nazi-Liga zu gründen. jedoch kommt man nie aus dem Gründungsstatus heraus. Zu verschiedene sind dieVorstellungen, zu defuse ist die Zielsetzung.

Die Anti-Nazi-Liga Dresden

Auch in Dresden war der Zionüberfall der Auslöser für die Gründung einer Antifa-Gruppe. Federführend agierte hier die anarchistisch angehauchte Oppositionsgruppe Wolfspelz. So bestand zwischen der Anti-Nazi-Liga Dresden und der Gruppe Wolfspelz faktisch Personalunion.
ihre tatsächlichen Aktivitäten waren dann auch sehr bescheiden. Ein Flugblatt wurde gefertigt und in Dresden verteilt. Eine Infoveranstaltung in verschiedenen Kirchen in Dresden durchgeführt. darüber hinaus tauchte die „Anti-Nazi-Liga Dresden“ nur noch auf gelegentlichen Unterschriftenlisten auf.

SVK-Halle und Brandenburg

Der Versuch sich gegen faschistische Gewalt zu wehren, führte 1988 in Halle dazu, dass sich innerhalb der Hallenser Punkszene militante Straßengangs bildeten und den Nazis Paroli zu bieten, indem sie zu den gleichen Methoden wie die Nazis griffen. Sie trainierten Kampfsport, bewaffneten sich und machten Jagd auf alle, die nur wie Nazis oder Skinheads aussahen. Zu allem Überfluss gaben sie sich selbst einen Namen, der noch heute äußerst Fragwürdig erscheint: „Skinhead-Vernichtungs-Kommandos (SVK)“. Da es innerhalb dieser Gruppierung keinerlei inhaltlichen Diskussionen oder thematischer Arbeit kam, löste sie sich schnell auf.
In der Stadt Brandenburg soll ein Ableger der SVK existiert haben, allerdings beruht dies nur auf damalige Behauptungen Hallenser SVKler.

Antifa Potsdam

Nach dem Überfall auf Zion kam es in Potsdam verstärkt zu Aktionen von Faschos.
Auch hier war es die ansässige Punkszene, die den Schritt, hin zur antifaschistischen Selbsthilfe, unternahm. Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Beispielen, stand in Potsdam ein aufklärerischer/systemkritischer Ansatz im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Man war von Anfang an um Kontinuität bemüht, um ein schnelles Versickern, wie zum Beispiel in Dresden, zu verhindern. So traf man sich wöchentlich in einer kirchlichen Ausbildungsstelle und diskutierte, anfänglich diffus, über die Gründe von Faschismus und versuchten sich an einer allgemeine Systemanalyse der DDR.
Es bestand unter ihnen die Hoffnung durch Öffentlichkeitsarbeit wie einer Flugblattaktion „Warnung Neonazis auch in der DDR“ Druck auf die Staatlichen Stellen auszuüben und sie zu öffentliche Stellungnahmen zwingen zu können. Als schnelle Erfolge ausblieben, blieben viele Leute weg. Besonders den, von Aktionismus getriebenen, wurde viel zu viel „gelabert“.
weiterlesen …

Autonome Antifa in der Kirche von Unten (Berlin)

Erst Ende Februar 1989 begannen innerhalb der Berliner Gruppe der Kirche von Unten (KvU) Aktivitäten für die Gründung einer Antifa-Gruppe. Auslöser war, dass einigen Leuten der KvU das „Antifaschistische Infoblatt“ Nr.6/7 aus Westberlin in die Hände fiel, in der über Vorbereitungen des internationalen Neofaschismus zum hundertsten Geburtstag von Adolf Hitler berichtet wurde. Hinzu kamen Informationen aus der Ostberliner Szene, dass die DDR-Faschisten am 20. April 1989 ein großes Treffen in Potsdam planten.
weiterlesen …

Antifa Infoblatt Ostberlin

Im Zeitraum Juli 1989 bis Juli 1990 brachte die Ostberliner unabhängige „Antifa in der Kirche von Unten“ (ab Sommer 1990 Autonome Antifa Ostberlin) drei Ausgaben der Zeitschrift „Antifa Infoblatt Ostberlin“ heraus.

Im Zeitraum Juli 1989 bis Juli 1990 brachte die Ostberliner unabhängige „Antifa in der Kirche von Unten“ (ab Sommer 1990 Autonome Antifa Ostberlin) drei Ausgaben der Zeitschrift „Antifa Infoblatt Ostberlin“ heraus.
Auf Grund des Staatlichen Medien- und Druckmonopols in der DDR, konnten die ersten beiden Ausgaben nur halblegal und auf altertümlichen Druckmaschinen im Wachsmatritzendruckverfahren herausgebracht werden. Das Drucken war eine ziemliche Sauerei, und die Kostbare Druckerfarbe musste aus dem Westen ins land geschmuggelt werden. Die Qualität war katastrophal und teilweise waren die Texte nur schwer lesbar. Fotos konnten gar nicht verwendet werden. Die Hefte wurden von Hand gelegt und geheftet. Die Auflage bestand aus jeweils 1500 bzw. 2000 Exemplaren. Die Ausgabe kostete 1 DDR-Mark. Das Heft war schnell vergriffen.

Die dritte Ausgabe wurde bereits im Offsetverfahren gedruckt. Allerdings führte die anfängliche Unerfahrenheit der Redakteure und Drucker mit diesem „neuen“ Medium zu einem Qualitativ niedrigen Ergebnis. Es konnte der Vergleich mit der in Westberlin, seit 1996 erscheinenden, Hochglanzzeitschrift „Antifaschistisches Infoblatt“ nicht standhalten. Hinzu kam das Heft ca. zwei Monate zu spät erschien und der Absatz nicht funktionierte. Es wurden letztendlich nur etwa 500 Stück verkauft. Danach wurde das Heft eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt stand die Antifagruppe bereits mitten in der Auflösung. Ein Teil der Redaktion ging zum „Antifaschistischen Infoblatt“.

info1_aAntifa Infoblatt Ostberlin, Nr. 1
erschienen im Juli 1989
Herausgeber: Antifagruppe in der KvU
pdfhier downloaden

 

info2_aAntifa Infoblatt Ostberlin, Nr. 2
erschienen im September 1989
Herausgeber: Antifagruppe in der KvU
pdfhier downloaden

 

info3_aAntifa Infoblatt Ostberlin, Nr. 3
erschienen im Juli 1990
Herausgeber: Autonome Antifa Ostberlin
pdfhier downloaden

Kurt Noack

VOM TOD EINES SOZIALDEMOKRATISCHEN ANTIFASCHISTEN

Nach der Machtübertragung an die Nazis kommt es unter Leitung der Hohen Neundorfer Sozialdemokraten Otto Scharfscherdt zum Aufbau einer Widerstandsgruppe. Wahrscheinlich Ende 1933/1934 wird Kontakt zur Widerstandsgruppe um den ehemaligen Major der preußischen Schutzpolizei Karl Heinrich aufgenommen, die sich aus Mitgliedern des 1933 verbotenen „Reichsbanners“, einer überparteilichen Republikschutztruppe, zusammensetzte. Damit umfaßt die Widerstandsgruppe „Nordbahn“ u.a. die Ortschaften Hammer, Liebenwalde, Hohen Neuendorf, Bergfelde Birkenwerder, und reicht bis nach Ladeburg bei Bernau und in den Norden Berlins hinein. Zur Leitung der Gruppe gehören neben Otto Scharfschwerdt, Hermann Schlimmer (Berlin), Erich Hahn (Birkenwerder), Erich Wienig (Birkenwerder) und Kurt Noack (Hohen Neuendorf).

1937 zerschlagen die Nazis die Widerstandsgruppe. 40 Aktivisten wird der Prozeß gemacht. Kurt Noack erhält eine 2 1/2 Jährige Zuchthausstrafe wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, die er im Zuchthaus Brandenburg absitzt. Nach seine Entlassung beteiligt er sich weiter am Widerstand in Hohen Neuendorf und nahm eine wichtige Rolle bei der Selbstbefreiung seines Heimatortes am 20./21. April 1945 ein.

Unmittelbar nach der Befreiung durch die Roten Armee gründet sich in Hohen Neuendorf eine neue SPD-Ortsgruppe, deren Vorsitzender Kurt Noack wird. Er wirkt in Kommissionen wie dem im Antifa-Ausschuß oder der Bodenreform-Kommisssion. Doch schon im August 1945, in folge von Querälen zwischen KPD und SPD, gerät Kurt Noack ins Blickfeld der sowjetischen Administration.

Als im März 1946 die Vereinigung von KPD und SPD vorbereitet wird, weigert sich Kurt Noack dieser Vereinigung zuzustimmen.

Am 03. Dezember 1948 tritt Kurt Noack seinen letzten Leidensweg an. Sein Enkel Heinz Noack erinnert sich:
„… Leute von der GPU sind am jenen Abend gekommen und haben ihn abgeholt mit der Begründung, sie brauchten eine Aussage von ihm. Er solle seine Sachen nehmen und meiner Großmutter wurde gesagt er solle etwas warmes zum anziehen mitnehmen. Es wurde eine Wohnungsdurchsuchung vorgenommen und sie wollten auch Papiere, Kassen und alles was ihnen Suspekt war sehen. An diesem Abend, als die Leute noch im Haus waren, kam Ernst Noack (Sohn von Kurt Noack), der in Reinickendorf wohnte, um seine Eltern zu besuchen. Er hatte unter anderem zufällig ein Exemplar der Westzeitung Telegraf dabei. Allein aus dem Grund, daß er eine solche Zeitung in die damals sowjetische besetzte Zone eingeführt hatte, war das schon eine Straftat. Darüber hinaus wurde ihm gesagt, er solle mitkommen und die Aussagen von meinem Großvater bestätigen und dann könne er wieder nach Hause gehen. Meine Großmutter ist dann auch mitgekommen. Damals war diese Stelle, wo er dann zum Verhör gebracht wurde, gegenüber der Grundschule, ich glaube es war die Berliner Straße. Da war unten ein Büro des Politbüro oder so etwas ähnliches und da hat er zuerst gesessen. Und da war die Großmutter zuerst auch dabei und hat ihren Kurt aber nicht mehr gesehen. Und da hat ein Beamter dann gesagt, sie solle doch nach Hause gehen. Er käme Heute nicht mehr wieder.

Kurt und Ernst Noack sind dann nach Sachsenhausen gekommen. Kurt Noack wurde nach Sibirien irgendwo am Baikalsee verschleppt und Ernst Noack kam nach Bautzen. Nach welchem Zeitraum sie verschleppt wurden und aus welchen Grund sie getrennt wurden kann ich nicht sagen. Es ist mir auch nicht bekannt ob ein Gerichtsverfahren oder eine Verurteilung stattgefunden hat. Ernst Noack kam 1956 aus Bautzen zurück.

Später ist ein Herr gekommen, den ich nicht namentlich kenne und auch nicht sagen kann wann er gekommen ist. Der hatte einen Art Spickzettel dabei, den man sich als Häftling untereinander in den Gefängnissen zusteckte, wenn einer Entlassen wurde. Der hatte auf dem Papier den Namen und die Adresse und ist dann nach Hohen Neuendorf zu meiner Großmutter gekommen und hat gesagt das Herr Kurt Noack dort verstorben ist. Er ist wahrscheinlich durch die schwere Zwangsarbeit, er war immerhin schon 70 Jahre (1884 geboren), verstorben. Was das für ein Lager war und welche Zwangsarbeit dort verrichtet wurde kann ich nicht sagen…“

Die späte Heimkehr des Robert Zeiler

– ERLEBNISBERICHT, ERSCHIENEN IN DER DDR-ZEITSCHRIFT „ANTIFASCHGISTISCHER WIDERSTANDSKÄMPFER“ NR. 12/89 –

Das es immer wieder dazu kam das die Sowjetische Besatzungsmacht wahllos unschuldige Inhaftierte, belegt der Erlebnisbericht des Berliner Robert Zeiler, der in Nummer 12/89 der Zeitschrift „Antifaschgistischer Widerstandskämpfer“ veröffentlicht wurde:

„…Der Tag der Selbstbefreiung der Häftlinge vom Konzenrationslager Buchenwald (KL BU), am II. April 1945, bleibt jedem unvergessen, der diesen Tag miterlebt hat. Die ersten vom Norden einrückenden Amerikaner, Panzer des Generals Patton, Soldaten der vordersten Linie, hatten weinen müssen, als sie die großen Leichenhaufen von verhungerten Menschen sahen, die vom Tag und Nacht im Einsatz befindlichen Krematorium nicht „verarbeitet“ werden konnten. Ich habe selbst, als Häftling Nr. 19999, viele von kampferprobten Frontsoldaten durch das Lager, speziell zum Krematorium geführt. Der bestialische Leichengeruch und der Geschmack der schwelenden Hügel von altem Schuhwerk verfolgt einen manchmal heute noch. Mein Stiefbruder Harald Hochhaus und ich waren mit der Begründung in „Schutzhaft“, am 11. März 1944, genommen worden:

1. Widerstand gegen die Anordnungen der Gestapo;
2. Begünstigung des Judentums;
3. Staatsfeindliches Verhalten. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu wollen, hatten wir das große Glück, bald in eine „Prominenten-Baracke“ zu kommen (Block 38). Die Hilfe von einigen Lagerkameraden hatte uns das Überleben ermöglicht.

Am 19. März 1945 fuhren mein Bruder und ich, eine junge Frau aus Weimar (Marianne Schuch) mit einem Auto, ausgestattet mit entsprechenden Papieren und Dokumenten, in englischer, französischer und russischer Sprache, nach Theresienstadt, um aus dem dortigen KZ überlebende Verwandte und Bekannte nach Weimar zu bringen. So konnten wir unsere Mutter, Frl. Schuch ihren Vater und noch jemand dort abholen. Es hat zwar Schwierigkeiten mit dem dortigen russischen Major gegeben, wegen der dort herrschenden Typhusgefahr, er hat uns aber fahren lassen. Nach diesem gelungenen Experiment entwickelte sich der Plan, die Heimfahrt (Repatriierung) der Berliner und Brandenburgischen ehemaligen Häftlinge zu organisieren. Aus allen Ländern erschienen Reisebusse, um die Kameraden in ihre jeweilige Heimat zurückzubringen. Aus Belgien, Frankreich, Holland, Norwegen, Polen, Tschechoslowakei u. v. a. Mit entsprechenden Reisedokumenten versehen, wurden außer meinem Bruder und mir der Kamerad Georg Krausz (ehem. Redakteur der „Roten Fahne“, mit russischen Sprachkenntnissen) und der Kamerad Georg Rittmann, den wir aus einem Berliner Sammellager kannten, auf große Fahrt geschickt. Walter Bartel war zwar etwas skeptisch, ob unser Plan gelingen würde, aber das hat uns nicht abgehalten. Am 25. Mai 1945 ging es los. In Raguhn, bei Dessau, haben wir übernachtet. Nach dem Übersetzen des Wagens über eine Pontonbrücke warnte uns noch ein russischer Offizier, die Autobahn zu nehmen, weil die meisten Brücken gesprengt waren. Nach einem Stop von russischen Soldaten wurden wir in ein Quartier gebracht, wo man unsere mitgeführten Lebensmittel (für unsere überlebenden Verwandten in Berlin gedacht) beschlagnahmte, aber jede Menge „Kwaß“ anböte. Wir fuhren weiter bis nach Potsdam, wo wir an der „Kaiser-Wilhelm-Briicke“, die zerstört war und nur eine russische Pontonbrücke die Überfahrt ermöglichte, zur Straße „Am kleinen Wannsee“ kamen, wo unser Onkel und Tante wohnten.

An der Auffahrt vor und nach der Pontonbrücke streikte unser Auto. Ein russischer Jeep und ein „Ford-Eifel“ (rot-blau gespritzt) mit dem russischen NKDW-Offizier von Potsdam an Bord, der sich unsere Reisedokumente geben ließ, stoppte uns: wir waren Internierte der sowjetischen Besatzungsmacht. Wir kamen in den berühmten „Cäcilienhof“, wurden an verschiedenen Enden der Gänge untergebracht. Wir wurden gut verpflegt, bekamen zu Essen, Trinken und soweit wir wollten, zu Rauchen. Aber wir konnten nicht mehr miteinander sprechen und unsere Gedanken austauschen. Von dort hätten wir ja noch fliehen können, aber von unserer Unschuld überzeugt, als ehemalige KL Bu-Häftlinge, kamen wir gar nicht auf diesen Gedanken. Später haben wir erst erfahren, was es mit unserer Verlegung in die „Villa Ingelheim“, des ehemaligen Prinz Eitel-Friedrich, auf sich hatte: Auf Cäcilienhof wurde die historische Besprechung der drei Alliierten vorbereitet, um über das weitere Schicksal Deutschlands zu beraten!

Erst bei den Verhören in der „Villa Ingelheim“ wurde uns bewußt, warum man uns festgenommen hatte. Ein russischer Major:
1. Kamerad Georg Krausz wurde gefragt: „Du Jude? Ich denke, in Deutschland Juden alle tot.“ Das war ein für uns besonderer Zynismus. 2. Mein Bruder und ich bekamen den Vorwurf: „Du amerikansky Spion, Du gucken, wie stark russische (rote) Armee in Berlin!“
3. Georg Rittmann war verdächtig, weil er in Batum geboren und seine Muttersprache russisch war. Da wir keine Möglichkeit der Verteidigung hatten, mußten wir uns in unser Schicksal fügen. Besonders leid tat mir dabei unser Kamerad Georg Krausz, der wegen seiner kommunistischen Überzeugung seit Jugend an – noch dazu als jüdischer Bürger – sich nach der Befreiung gesehnt hatte, und auch verdient hatte. Von der „Villa Ingelheim“ kamen wir mit LKW auf Transport nach „Ketschendorf“, einer Arbeitersiedlung, die zu einem lntemierungslager umfunktioniert worden war. Für uns war das Schlimmste, daß wir hier mit den vielen kleinen und großen Nazis – vom Blockwart bis zum Bahnhofsdirektor, der für Deportationen zuständig war, dazu noch Nazi-Ärzte u. v. a. zusammenleben mußten. Es waren auch Leute dabei, wie der Erfinder des fahrbaren Vergasungsgerätes, das in Polen eingesetzt worden war. Dies hat für uns eine demoralisierende Wirkung gehabt, weil diese Nazis von ihren Taten so überzeugt ren!

Von Ketschendorf, wo wir unseren Kameraden G. Rittmann unter die Erde bringen mußten, der an Tbc, die er im KZ bekommen hatte, starb, ging unsere Reise weiter nach Brest-Litowsk, wo wir Winterausrüstungen (Bekleidung) mitschleppten. Szenen, wie in dem berühmt gewordenen Film „Dr. Schiwago“, in einem Waggon mit einem vor Hunger „Durchgedrehten“, den Zuständen der Entsorgung, der Verteilung des Brotes (ohne Brotmesser u. ä.). Es war eine Katastrophe …

In Brest-Litowsk gingen unsere Wege auseinander. Mein Stiefbruder (mit anderem Nachnamen), kam in einen anderen Wagen. Ich bin während der medizinischen Untersuchung durch den überhitzten Raum ohnmächtig geworden. Ich landete später, nachdem man uns gesagt hatte, wir werden mit Kriegsgefangenen in Frankfurt (Oder) entlassen, wieder im KZ Buchenwald. Mein Bruder kam zu einem Arbeitseinsatz in ein Kohlebergwerk bei Stalinsk. Georg Krausz soll in ein Lager Mühlberg o. ä. gekommen sein. Walter Bartel hat aufgrund der unermüdlichen Nachforschungen unserer Mutter einige Dinge ausfindig machen können, so den Aufenthalt von G. Krausz. Es ist für uns Betroffene unbeschreiblich, diese Erlebnisse zu Papier zu bringen, weil sie uns – gerade als überzeugte Demokraten und Antifaschisten so sehr deprimieren.

Am 15. Juli 1948 bin ich aus dem KZ Buchenwald endgültig entlassen worden. Mein Bruder 1950 aus Stalinsk…“

Über das Schicksal von Georg Krausz informierte ergänzend Emil Carlebach, 1989 Mitglied des Präsidiums der VVN-BdA:

„…1. Der NKWD-Offizier war offensichtlich verärgert, daß Georg Krausz (zum Unterschied von anderen Deutschen) ihm sehr selbstsicher gegenübertrat. Daß Krausz perfekt russisch sprach (er stammt von der ungarischen Grenze zur UdSSR) machte ihn bei diesem Offizier verdächtig. Dann legte Krausz ihm den Parteiausweis vor, der bestätigte, daß der Inhaber von Anfang an in der illegalen KPD-Organisation des Lagers aktiv tätig war. Darauf der Major: „Das brauchen Sie mir gerade noch erzählen, daß die Amerikaner Euch erlaubt hätten, kommunistische Parteiausweise zu drucken!“ Damit war das Verhör zu Ende – Georg Krausz kam nach Buchenwald.

2. Walter Bartel, der Vorsitzende der KPD-Gruppe im KL Bu, und Wilhelm Pieck, Vorsitzender der KPD, der G. K. Krausz schon lange kannte, versuchten vergeblich, festzustellen, wo der Verschollene geblieben war. Krausz berichtete mir 1948, nach seiner Freilassung, daß er jedesmal, wenn eine Untersuchungskommission ins Lager kam, vortrat, und seinen Fall schilderte. Jedesmal hätten die Offiziere betroffen reagiert und sich seine Akte kommen lassen. Und jedesmal hätte es dann geheißen: „Da können wir nichts machen.“ Schließlich gelang es Krausz, heimlich eine Nachricht nach Berlin an Wilhelm Pieck zu senden. Dieser verlangte sofort von der sowjetischen Militärverwaltung die Freilassung des unschuldig Festgehaltenen. Auch hier zunächst das „da können wir nichts machen“. Aber Wilhelm Pieck konnte einen „Kompromiß“ durchsetzen: Georg Krausz wurde aus Buchenwald in eine Zelle des Zuchthauses Borgau gebracht, dann wurde der Innenminister des ehemaligen Landes Sachsen-Anhalt, Robert Siewert – ebenfalls ein Buchenwaldhäftling – ohne Angabe von Gründen auch dorthin gebracht. Als die beiden sich in der Zelle um den Hals fielen, waren die Russen endlich überzeugt. Georg Krausz wurde entlassen…“

Antifa-Ausschüsse und ihre Zerschlagung in der SBZ/DDR

Unmittelbar vor bzw. nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Deutschland und der Zerschlagung des Dritten Reiches entfalteten antifaschistische Kräfte in Deutschland eine sprunghaft gesteigerte Aktivität.

In nahezu allen Städten der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), vor allem in den industriellen Ballungsgebieten im Südteil der Zone und im Berliner Raum, entstanden Antifaschistische Ausschüsse mit einer zum Teil beträchtlichen Mitgliederzahl. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der Faschismus die Strukturen der ihm feindlich gegenüber stehenden Organisationen, also vor allem KPD, der SPD und der Gewerkschaften, weitgehend zerschlagen hatte, wird verständlich, daß diese Bewegung weitgehend spontanen Charakter hatte. Entsprechend vielfältig waren ihre Ausdrucksformen.

Die Zusammenschlüsse in den einzelnen Städten, die sich als Antifaschistische Ausschüsse, als Volkskomitees, als Gruppen des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ (NKFD) oder unter anderen Bezeichnungen konstituierten, hatten ein durchaus unterschiedliches Verständnis ihres Charakters und ihrer Aufgaben nach der Befreiung. Sie Verstanden sich zum überwiegenden Teil als Volksfront-Komitees, teilweise aber auch als Gewerkschaftsgruppen, als Keimform einer künftigen einheitlichen Arbeiterpartei oder auch als Räte.

Gemeinsam war ihnen vor allem die Tatsache, daß sie sich überwiegend aus Arbeitern zusammensetzten und ihre Wurzeln in der illegalen antifaschistischen Widerstandsarbeit hatten, die in den meisten Fällen von KPD und SPD-Mitgliedern gemeinsam initiiert worden war. Aber auch Parteilose des ehemaligen Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts Bundes (ADGB) und Anarchisten waren in den Ausschüssen zu finden.

Die meisten Antifa-Ausschüsse (oder ähnliche Organisationen) begannen selbständig – also ohne Weisungen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), deren Organe in den betreffenden Orten oft noch gar nicht eingerichtet waren – mit der Säuberung der Verwaltungen und Betriebe von Nazis. Sie übernahmen die für das Überleben notwendigen öffentlichen Funktionen, setzten die Strom- und Wasserversorgung wieder in Gang, organisierten die Lebensmittelversorgung und Aufräumarbeiten usw.

Der Umfang dieser Bewegung ist nicht genau bekannt. In Sachsen wurden mindestens 68, für Thüringen 80 Komitees ermittelt. In Meißen fand die „Gruppe Ackermann“ einen kompletten „Rat der Volkskommissare“ vor. In Sachsen arbeiteten mehrere aktive anarchistische Gruppen im Industriegebiet Zwickau.

Die KPD-Führung betrachtete die spontan entstandenen, von ihr nicht kontrollierten, Antifa-Ausschüsse und -Komitees mit erheblichen Mißtrauen und drängte auf ihre Eliminierung. Bereits im April 1945 waren die Politischen Hauptverwaltungen der Roten Armee und der KPD in erster Linie darauf bedacht gewesen, daß sich in Deutschland neue politische und gesellschaftliche Strukturen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auf gar keinen Fall spontan entwickelten. Noch während der letzten Kampfhandlungen um Berlin übten einzelne Beauftragte des ZK der KPD und die Frontbeauftragten des Nationalkomitees Freies Deutschland Kontrollfunktionen aus. Gleichzeitig wurden in Moskau Kader auf die Arbeit in Deutschland vorbereitet. Eine Gruppe deutscher Kommunisten unter der Führung von Walter Ulbricht wurde gebildet. Eine ihrer vordringlichen Aufgaben bestand darin, allen spontan entstandenen antifaschistischen Ausschüssen den Boden zu entziehen. Ein Teil dieser Kader übernahm Funktionen in der Stadt für längere Zeit, während andere beauftragt wurden, in den kleinen Städten und Gemeinden des betreffenden Kreises bei der Schaffung der Gemeindeverwaltungen zu helfen bzw. zu kontrollieren, ob die geschaffenen Gemeindeverwaltungen aus zuverlässigen Antifaschisten bestehen und wirklich im Sinne der Richtlinien arbeiten.

Doch die meisten Mitglieder von Antifa-Ausschüssen weigerten sich kategorisch, ihre Organisationen aufzugeben. Von einer Aufhebung ihrer schon in der Illegalität und Halblegalität enstandenen Gruppen konnte für sie keine Rede sein. Für die ablehnende Haltung, die das ZK der KPD gegenüber den Antifa-Ausschüssen insgesamteinnahm, waren wohl vor allem zwei Gründe ausschlaggebend:

-Zwischen dem ZK und den Ausschüssen bestanden zum Teil erhebliche Differenzen über den Charakter der in der SBZ zu vollziehenden sozialen Umwälzung.

– Das vom ZK entwickelte Konzept für den Aufbau neuer Staatsstrukturen stützte sich vor allem auf ein zu schaffendes Bündnis der neu- bzw. wiederentstandenen Parteien, was teilweise im Widerspruch zu den Ausschüssen als einer wesentlich spontanen, überparteilichen Bewegung stand.

Die im Aufruf des ZK niedergelegten Konzeptionen stießen auf erheblichen Widerstand gerade bei vielen Kommunisten in den Antifa-Ausschüssen. Das durch die faschistische Diktatur erzwungene Exil der meisten kommunistischen Parteiführer hatte eine einheitliche Programmatische Linie der gesamten Partei kaum möglich werden lassen und so hatten sich unter den Illegalen teilweise Vorstellungen herausgebildet, die mit denen des ZK nicht übereinstimmten und kollidierten. Diese Parteikader sahen sich unmittelbar nach der Befreiung mit dem Vorwurf des „Sektierertums“ konfrontiert. In einem Bericht von Anton Ackermann heißt es: „Meistens galt es ´linke Überspitzungen´ zu korrigieren. So in der Stadt Meißen, wo wir einen kompletten Rat der Volkskommissare vorfanden. Der Genosse Mücke, der dann längere Zeit als Bürgermeister tätig war (…) wollte zunächst nicht einsehen, was politisch notwendig war. Aber es half nichts. Auch in Meißen mußten die Genossen unsere Argumente anerkennen und sich auf die Linie der Partei begeben.“ /1/

Wie stark diese als „linke Überspitzungen“ bezeichneten Ansichten in großen Teilen der KPD vertreten waren, geht aus einem Brief von Walter Ulbricht hervor, den er im Mai 1945 an Wilhelm Pieck in Moskau schrieb: „Wir müssen uns Rechenschaft ablegen darüber, daß die Mehrheit unserer Genossen sektiererisch eingestellt ist, und daß möglichst bald die Zusammensetzung der Partei geändert werden muß durch die die Hereinnahme aktiver Antifaschisten, die sich in der Arbeit bewähren.“ /2/

Die KPD-Führung drängte verstärkt auf die Umsetzung ihrer Konzepte und somit auf eine rasche Auflösung der Antifa-Ausschüsse. In einem Brief an Georgi Dimitroff schreibt Ulbricht: Die spontan geschaffenen KPD-Büros, die Volksausschüsse, die Komitees der Bewegung ´Freies Deutschland´ und die Ausschüsse der Leute des 20.Juli, die vorher illegal arbeiteten, treten jetzt offen auf. Wir haben die Büros geschlossen und den Genossen klargemacht, daß jetzt alle Kräfte auf die Arbeit in den Stadtverwaltungen konzentriert werden müssen. Die Mitglieder der Ausschüsse müssen ebenfalls zur Arbeit in die Stadtverwaltungen übergeführt und die Ausschüsse selbst liquidiert werden.“ /3/

Diese Überführung bereitete aber offensichtlich Schwierigkeiten, da viele ihre Arbeit in den Ausschüssen nicht aufgeben wollten. Noch Ende Juni 1945 sah sich Ulbricht bei einer Instruktion der KPD-Führung Berlin/Brandenburg genötigt, die andauernde „Rummurkserei mit der Antifa“ zu kritisieren. Er erklärte: „Wir sind nicht für solche Organe. Wenn die Partei eine richtige Politik betreibt,
dann bleibt für antifaschistische Sekten kein Platz mehr.“ /4/

Der Aufbau erster neuer Verwaltungen und die Konsolidierung der KPD bedeutete dann auch das Ende der Antifa – Ausschüsse. Sie wurden 1948 endgültig zerschlagen.

Die Bildung der Verwaltungsorgane in der SBZ wurde dann im wesentlichen durch die jeweiligen Organisationsebenen der Blockparteien vollzogen. Die Bestätigung der Bürgermeister erfolgte durch den Militärkommandanten bzw. durch die Sowjetische Militäradministration.

Die verschieden antifaschistischen Organisationen, Komitees und Ausschüsse, als direkte Nachfolger der deutschen Widerstandsbewegung verkörperten das Potential, auf das sich eine echte antifaschistische Umwälzung hätte stützen können. Zudem hatte die Bewegung mit dem Einmarsch der alliierten Streitkräfte tatsächlich Massencharakter angenommen. Insofern war die Haltung der KPD-Führung gegenüber den Ausschüssen, die faktisch auf ein Abwürgen dieser Bewegung zielte, nicht geeignet, die selbständige Initiative der Menschen in der SBZ zu fördern und ihr antifaschistisches Potential zu entwickeln.

Quellen:

1 Staat und Recht, Nr. 5/65, S.674

2 W. Ulbricht, Zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin (DDR) 1966, S.205

3 W. Ulbricht, Zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin (DDR) 1966, S.417

4 W. Ulbricht, Zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin (DDR) 1966, S.233

Antifaschismus als Staatsdoktrin der DDR

ZITIERTE AUS WIKIPEDIA

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hat sich selber in die Nachfolge des antifaschistischen Kampfes der KPD und des kommunistischen Widerstands gegen das NS-Regime gestellt. Wegen dieses auch als Gründungsmythos bezeichneten Anspruchs erhob sie den Antifaschismus früh zur leitenden Staatsdoktrin, die zur Abgrenzung vom Nationalsozialismus, aber auch von der Bundesrepublik Deutschland (BRD) diente. Auf Grundlage einer marxistischen Faschismustheorie verstand man die Bundesrepublik als „postfaschistisch“ und versuchte, ideologische und personelle Kontinuitäten zum Nationalsozialismus nachzuweisen.

Anspruch und Feindbild der DDR-Staatsideologie werden spätestens seit der Wende von 1989 historisch stark kritisiert: Sie hätten eine wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus dort verhindert. Der von oben verordnete Antifaschismus habe eine wirkliche Entnazifizierung und einen Bruch mit autoritären und totalitären Staatsformen blockiert, die Bevölkerung nicht erreicht und sei zur Durchsetzung politischer Selbstbehauptung im Rahmen des Kalten Krieges instrumentalisiert worden.

Generell wurde die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland gemäß der Faschismustheorie als Ausdruck des sich verschärfenden Klassenkampfs betrachtet. Dieses Geschichtsbild bewirkte, dass das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus besonders auf kommunistische Widerstandskämpfer konzentriert wurde und die ermordeten Juden und andere Opfergruppen nur am Rande thematisiert wurden. Die gesamte Rassenideologie der Nationalsozialisten wurde lediglich als „Instrument zur Täuschung der Arbeiterklasse“ erklärt. Diese Geschichtsverständnis bot der DDR-Führung die Möglichkeit ihre Herrschaft zu legitimieren. Der DDR-Bevölkerung bot sie die Möglichkeit eventuelle Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus zu externalisieren, da der Faschismus als Phase des Klassenkampfes quasi historisch zwangsläufig erschien und mit der „antifaschistischen DDR“ endgültig überwunden sei. Jeder DDR-Bürger konnte sich selbst und die DDR als Sieger der Geschichte begreifen.

Der Antifaschismus stellte die zentrale Selbstlegitimationsgrundlage für die Existenz der DDR da. Er sollte das Machtmonopol der SED ebenso wie die Berliner Mauer („Antifaschistischer Schutzwall“) rechtfertigen.

Die Selbstbefreiung von Hohen Neuendorf bei Berlin

– AUS DEN ERINNERUNGEN VON ZEITZEUGEN
VON DIETMAR WOLF, ERSCHIENEN IM TELEGRAPH – SONDERAUSGABE zum 8. Mai 2015 –

Nach der sowjetischen Winteroffensive stand die Rote Armee Ende Januar 1945 entlang von Oder und Neiße rund 80 Kilometer vor Berlin. Der Krieg ging in die letzte Phase. Die Eroberung Berlins und die endgültige Zerschlagung der faschistischen Machtzentrale waren das erklärte Ziel.

Bis Anfang April wurden rund 2,5 Millionen Soldaten, 6.000 Panzer und 7.500 Flugzeuge für den Angriff in Stellung gebracht. Ihnen gegenüber standen rund eine Million deutsche Soldaten, die sich aus Resten von Wehrmachtsarmeen, Einheiten der Waffen-SS und deren Hilfstruppen sowie aus improvisierten Verbänden von Polizei und Volkssturm zusammensetzten. Kaum 800 Panzer konnten die Verteidiger aufbieten, die zudem unter erheblichem Munitions- und Treibstoffmangel litten.

Am 16. April 1945 leitete die Rote Armee mit einem Zangenangriff auf Berlin das nahe Ende der Naziherrschaft ein. Die 1. Ukrainische Front unter Marschall Iwan Konew überrollte die deutschen Verteidigungsstellungen an der Lausitzer Neiße südlich von Berlin, während die 1. Weißrussische Front unter Georgij K. Schukow nach verlustreichen Kämpfen auf den Seelower Höhen die Stadt im Norden umging.1

Die Befreiung von Hohen Neuendorf gehörte zu den Kämpfen im Raum Oranienburg, der mit zum äußeren Verteidigungsring der Hauptstadt gehörte und in dem von deutscher Seite etwa 40.000 Soldaten der „Armeegruppe Steiner“, der „Volkssturmdivision Velten“ und der „SS-Totenkopfdivision Brandenburg“ stationiert waren. Die Einheiten der Roten und der Polnischen Armee im Raum Oranienburg-Sachsenhausen hatten die Aufgabe, die „Armeegruppe Steiner“, die sich befehlsmäßig vom Norden aus nach Berlin durchschlagen sollte, zurückzuwerfen. Die Kämpfe zogen sich bis zum 29. April hin. In diesem Zeitraum wurde neben Hohen Neuendorf auch Glienicke, Gemeinde und KZ Sachsenhausen, Lehnitz, Oranienburg, Birkenwerder und Germendorf befreit.
Am 22. April 1945 ist in Hohen Neuendorf der Krieg zu Ende. Am Abend des 20. April 1945 rückten die ersten Einheiten der Roten und polnischen Armee in den Oranienburger Raum vor. Am 22. April (nach anderer Aussage ist es der 21. April) wurde Hohen Neuendorf durch Einheiten der Roten Armee im Süden und durch die polnische 1. Infanteriedivision „Tadeusz Kościuszko“ im Norden befreit. Zwei polnische Flakstellungen verblieben in der Briesestraße, um den geplanten Durchbruch deutscher Truppen über die Havel zu verhindern. Dabei fielen 11 polnische Soldaten, die zunächst in der Ernastraße bestattet und 1954 auf den Friedhof Hohen Neuendorf umgebettet wurden. Seitdem finden regelmäßig zum polnischen Nationalfeiertag und zum Tag der polnischen Armee Kranzniederlegungen auf dem Friedhof statt (Stand 1978).2

Über den Ablauf der Selbstbefreiung gibt es verschiedene, teils abweichende Berichte und Zeitzeugenerzählungen. Die Sozialdemokratin Ilse Semrau erinnert sich: „Am 20. April 1945 gegen Abend wurde in Hohen Neuendorf ein Treck zusammengestellt, der sich hinter die Havel zurückziehen sollte. Dabei taten sich Lehrer Hornemann (als Parteifunktionär und Volkssturmführer in voller Naziuniform) und Herr Hundeshagen besonders hervor. Hornemann begleitete den Treck mit dem Fahrrad und wollte offensichtlich zurückkehren. Am nächsten Tage wurde er tot auf dem Stolper Feld gefunden. Die Einwohner, die mit dem Treck mitgezogen waren, kehrten erst Wochen später zurück.“3

Die Hitler-Jugend musste zum Appell antreten und wurde zum bewaffneten Kampf gegen die „Russen“ aufgerufen. Während sich eine Gruppe SS im Rathaus verschanzte, errichtete der Volkssturm Panzersperren am Ortsausgang in Richtung Hennigsdorf. Hohen Neuendorf sollte bis zum letzten Blutstropfen gehalten werden. Doch es kam alles anders. Denn es gab im Ort eine aktive Widerstandgruppe aus Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilosen. Diese Gruppe wagte die Selbstbefreiung. Ein unmittelbar nach der Befreiung abgefaßter Gemeindebericht für den Zeitraum 21. April bis 16. Juni 1945 schildert diese Aktion: „Vor dem Einrücken der Roten Armee, in der Nacht vom 21. zum 22. April 1945, entwaffnete eine antifaschistische Gruppe das von der SS besetzte Rathaus. Nach Beseitigung des Widerstandes wurde das Rathaus in den Verteidigungszustand versetzt. Mit der Entwaffnung der Faschisten im Orte sowie der Waffen-und Munitionssuche wurde zugleich die Verhaftung der Faschisten im Rathause vom politischen Leiter (Bürgermeister) bis zum politischen Leiter des Bezirks vorgenommen. Diese Aktionen laufen auch in Zukunft weiter. Unsere Gruppe hatte die Aufgabe, den Volkssturm zu bewegen, die Waffen niederzulegen und die Panzersperren zu öffnen. Diese Aktion ist restlos geglückt, ein Kampf gegen die Rote Armee fand nicht statt. Die erste Panzerspitze der Roten Armee, die sich von Bernau über Bergfelde nach Hohen Neuendorf bewegte, konnte nach Verständigung zwischen der antifaschistischen Gruppe und dem Panzerkommandanten, daß der Ort von uns gesichert und die weiße Fahne auf dem Rathaus gehißt ist, ihren Vormarsch über Hohen Neuendorf fortsetzen.“4

Was die kampflose Übergabe bzw. Befreiung von Hohen Neuendorf betrifft, unterscheiden sich die Beschreibungen im Gemeindebericht mit den Erinnerungen von Zeitzeugen. Danach hätten sich in der Stolper Straße Hitlerjungen verschanzt, die den sowjetischen Soldaten kurzzeitig Widerstand leisteten. Frau Semrau berichtet: „In der Nacht vom 20. zum 21. April gab es Kämpfe in der Stolper Straße zwischen Hohen Neuendorfer Hitlerjungen und russischen Panzern. Die Panzer sind wahrscheinlich die Stolper Straße entlang aus Richtung Hennigsdorf gekommen. Die Panzersperre, die an der Brücke unter der Bahn in der Berliner Straße errichtet worden war, hatte sie jedenfalls nicht gestört. Den Widerstand der Hitlerjungen hatte Herr Werk angestiftet, vielleicht auch Lebensmittelhändler Wolfert. Wolfert war Nazi und lief oft in brauner Uniform herum. Sein Laden war in der Stolper Straße, Ecke Florastraße; bei ihm war ich früher schon zum Lebensmittelmarkenaufkleben verpflichtet worden. Bei diesen Kämpfen wurden Helwig und noch ein weiterer Hitlerjunge getötet, die Gaststätte Fichtenhain und das Haus von Werk zerstört.“5
Die Beschreibungen von Ilse Semrau werden durch die Erinnerungen von Heinz Becker, ebenfalls aus Hohen Neuendorf, bestätigt. „Am Tag nach der Einnahme Hohen Neuendorfs, verließ ich morgens bei schönem Wetter unser Haus und hatte die erste Begegnung mit einem russischen Soldaten. Ich ging dann durch den Hainweg in Richtung Berliner Straße. Im Hainweg lag ein toter SS-Mann, seine Maschinenpistole hing zerbrochen an einem Baum.

An der Ecke Berliner Straße/Stolper Straße lagen vier tote Hitlerjungen, einer davon war mein HJ-Führer, den ich an der besonderen Färbung seiner Augenbrauen erkannte. In der Stolper Straße waren abgeschossene russische Panzer, über die Anzahl kann ich nichts sagen. Hohen Neuendorf wurde aus der Hennigsdorfer Richtung eingenommen, die Panzer kamen die Stolper Straße entlang und wurden von den Hitlerjungen aus den Häusern heraus bekämpft. Diese Kämpfe hatten offensichtlich in der Nacht zuvor stattgefunden und waren nur kurz. Innerhalb von drei Stunden war in Hohen Neuendorf der Krieg erledigt. Meine Eltern hatten die Situation richtig eingeschätzt und mich so beeinflußt, daß ich den Befehl zum Treffen für den Kampf um Hohen Neuendorf verweigert hatte, zu Hause geblieben war und an diesen Kämpfen nicht teilgenommen hatte. Das rettete mir wahrscheinlich das Leben.

Von der Stolper Straße ging ich zum Rathaus. Dort war ein schweres Maschinengewehr in Stellung mit zwei Zivilisten mit roten Armbinden und solchen Mützen, daß ich sie für deutsche Kommunisten hielt. Auf dem Rathaus wehte eine weiße Fahne, die später von einem deutschen Flugzeug abgeschossen wurde.“6

Nach der Befreiung werden führende Nazis, wie Paul Jacob und Ortsbauernführer Hornemann-Scheider, von der Sowjetarmee in Gefangenschaft genommen. Aus der Ruhwald- und Hubertusstraße werden 75 Familien umquartiert, weil in die dortigen Häuser die Rote Armee einzieht. Später wird nur noch das Gebäude des späteren Kinderheimes „Sonnenhaus“ in der Berliner Straße in Beschlag genommen. In diesem Gebäude bringt man die Kommandantur der sowjetischen Armee unter. Die polnische Armee ist im Mädchenviertel einquartiert.

Der Kommunist Ernst Nowacki wird zum Bürgermeister der Gemeinde ernannt. Es werden ehrenamtliche Ausschüsse gebildet, die die Verwaltung kontrollieren und gleichzeitig die Interessen der Bürger beim Magistrat zur Sprache bringen sollen. In Hohen Neuendorf gründen sich Ortsgruppen der KPD, SPD und der Liberaldemokratischen Partei (LDPD).

Ende Juli/Anfang August 1945 wird der Kommandant der sowjetischen Armee von Hohen Neuendorf abgezogen. Die Bezirkskommandantur befindet sich nach wie vor in Birkenwerder. Als Kommandant ist Major Postowski eingesetzt.

Am 1. August wird eine Kohlenstelle eingerichtet. Da jedoch nicht mit ausreichend Kohle gerechnet wird, organisiert diese Kohlenstelle die Versorgung mit Holz. Die Gemeinde bekommt im Forst Elseneck Holz zum Schlagen – jeder Haushalt erhält bald darauf 1/2 Meter Holz. Die im Dezember gelieferten 170 Zentner Kohlen werden an Gärtnereien, Wäschereien, Schulen und Ärzte verteilt.

Am 14. August 1945 werden auf einer Versammlung alle Lehrer, die Mitglied der
NSDAP waren, entlassen. Für Hohen Neuendorf bedeutet das, daß es plötzlich nur noch zwei männliche und vier weibliche Lehrer gibt. Diese werden aber bereits im September 1945 durch 8 Neulehrer verstärkt. Im Oktober 1945 beginnt, per Befehl der SMAD (Sowjetische MilitärAdministration in Deutschland), der Schulunterricht. Neues Unterrichtsfach ist nun Russisch.
Am 6. September wird eine Verordnung über die Bodenreform erlassen, in deren Folge sich in Hohen Neuendorf die Kommission der Bodenreform bildet. Bis zum 22. Oktober werden sechs Wirtschaften von „Kriegsverbrechern und aktiven Faschisten“ enteignet. Das ist eine Fläche von insgesamt 26,55 ha, davon bestellte Fläche 2,75 ha. 137 Anträge auf Landzuteilung liegen vor, davon 22 von landarmen Bauern und 115 von Landlosen (darunter Landarbeiter und Kleinpächter). Da aber in Hohen Neuendorf keine größeren landwirtschaftlichen Flächen enteignet wurden, werden zunächst 27 Bewerber für Neubauernstellen in Schönfließ angesetzt. Im November 1945 sind es bereits 30 Neubauern aus Hohen Neuendorf. Jeder von ihnen hat ca. 5 ha Land und 2 ha Wald aus der Aufteilung des Gutes Schönfließ erhalten. Bis zum 25. Februar 1946 erhält Hohen Neuendorf insgesamt 38,55 ha. Hiervon werden verteilt: an einen landarmen Bauern 4,1 ha Ackerland, an 130 landlose Industrie- und Landarbeiter 14 ha. Der Rest fällt an die Gemeinde, u. a. für das Schulgelände.

Seit Einzug der Roten Armee verfügen die Gemeinde und die Bürger lediglich über Pferdefuhrwerke (4 Doppelgespanne und 4 Einspänner). Im September 1945 erhält Hohen Neuendorf die erste Hanomag-Zugmaschine, die zweite im Dezember.7

Frau Elfriede Siebert schrieb in dieser Zeit Tagebuch und beschreibt darin die ersten Monate in Hohen Neuendorf nach der Befreiung:

30. April: „Es sollen alle Radios, Schieß- und Stichwaffen, Vervielfältigungsapparate, Fotoapparate abgegeben werden.“
2. Mai: Verteilung von Lebensmittelkarten in Birkenwerder, „doch darauf haben sie noch nichts bekommen. Hier in unserer Straße sind wir noch nicht registriert.“
3. Mai: Suche nach versteckten Soldaten, „es soll eine Truppe SS hier in den Wäldern gewesen sein“; es wurde geschossen.
4. Mai: „Wir bekamen heute Brot auf Marken … Zwei Brote auf neun Mann.“
5. Mai: Die Bevölkerung soll sich um 12.00 Uhr vor dem Rathaus versammeln, der Kommandant will eine Ansprache halten. „Als viele tausend Menschen vorm Rathaus versammelt waren, kam der Kommandant, es wurde ein Schriftstück verlesen, die Verurteilung eines Hohen Neuendorfers, der vorhandene Waffen, Rundfunk- und Fotoapparate nicht abgeliefert hatte. Nach Verlesen des Urteils ist er vor der Bevölkerung erschossen worden.“

6. Mai: Der Erschossene war ein Flüchtling. In dem Haus, wo er untergekommen war, wurde der Koffer des Hausbesitzers mit Uniformstücken und Waffen gefunden. Seiner Erklärung, daß es nicht seine Sachen wären, wurde nicht geglaubt.
13. Mai: „Der Kaufmann Wolfert ist einem Schlaganfall erlegen, man hat ihm die Tochter vergewaltigt.“ Nach einem Bericht hat sich Dr. M. mit Familie erschossen, er war „wohl Volkssturmführer“.

15. Mai: Sammlung einer Rotkreuzschwester für das neue Krankenhaus, das in der Jugendherberge eröffnet werden soll.
20. Mai: „Wir haben heute das erstemal Fleisch bekommen, 159 g seit Wochen, 5 Pfund Kartoffeln und wieder 1050 g Brot, 50 g Zucker, Mehl und sogar 50 g Salz. Der russische Kommandant sagt, daß dieses hier die schlechtversorgteste Gemeinde sei. Berlin ist im Augenblick besser dran.“

9. Juni: „Die Bahn fängt an zu fahren. Morgens und abends geht ein Zug bis Stettiner Bahnhof und zurück bis Lehnitz (?).“
13. Juni: „… seit Mittag finden wieder furchtbare Explosionen statt, das Haus erschüttert bis auf den Grund.“
12. August: „An Nahrungsmitteln gibt es nichts außer Brot, dieses auch nur mit großer Mühe.“
1. September: „Es kommt jetzt Brot von Berliner Großbäckereien, die Bäcker hier haben alle Backverbot, sie sollen zuviel verschoben haben, daher diese Änderung.“
18. Oktober: „Wir müssen uns alle untersuchen lassen, der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist miserabel, Oranienburg ist noch gesperrt.“
17. November: „Wir dürfen nur 20 kWh elektrisches Licht im Monat verbrauchen.“
19. November: „Wir haben eine extra große Überraschung bekommen, ich muß noch einmal Gemeindesteuern bezahlen, sie sind einfach verdoppelt worden.“
Weihnachten: „Wieder kommen neue Flüchtlinge nach Hohen Neuendorf.“8

Hohen Neuendorf war mit Beginn der Naziherrschaft ein aktiver Hort sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstands. Die Widerstandsgruppe „Nordbahn“ unter Führung des Sozialdemokraten Otto Scharfschwerdt wirke in der ganzen Region bis in den Norden Berlins. Zur Leitung der Gruppe gehören neben Otto Scharfschwerdt, Hermann Schlimmer (Berlin), Erich Hahn (Birkenwerder), Erich Wienig (Birkenwerder) und Kurt Noack (Hohen Neuendorf).

1937 zerschlagen die Nazis die Widerstandsgruppe. 40 Aktivisten wird der Prozeß gemacht. Kurt Noack erhält eine zweieinhalbjährige Zuchthausstrafe wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, die er im Zuchthaus Brandenburg absitzt. Nach seiner Entlassung beteiligt er sich weiter am Widerstand in Hohen Neuendorf und nimmt eine wichtige Rolle bei der Selbstbefreiung seines Heimatortes am 20./21. April 1945 ein.9

Unmittelbar nach der Befreiung von Hohen Neuendorf entsteht dort eine neue SPD-Ortsgruppe, deren Vorsitzender Kurt Noack wird. Er wirkt in Kommissionen wie dem Antifa-Ausschuß oder der Bodenreform-Kommission mit. Doch schon im August 1945, infolge von Querelen zwischen KPD und SPD, gerät Kurt Noack ins Blickfeld der sowjetischen Administration. Als im März 1946 die Vereinigung von KPD und SPD vorbereitet wird, weigert sich Kurt Noack, dieser Vereinigung zuzustimmen.

Am 3. Dezember 1948 wird Kurt Noack, zusammen mit seinem Sohn Ernst Noack, von dem NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) verhaftet und nach Sibirien deportiert. Sein Enkel Heinz Noack erinnert sich: „Leute von der GPU10 sind an jenem Abend gekommen und haben ihn abgeholt mit der Begründung, sie brauchten eine Aussage von ihm. Er solle seine Sachen nehmen, und meiner Großmutter wurde gesagt, er solle etwas Warmes zum Anziehen mitnehmen. Es wurde eine Wohnungsdurchsuchung vorgenommen, und sie wollten auch Papiere, Kassen und alles, was ihnen suspekt war, sehen. An diesem Abend, als die Leute noch im Haus waren, kam der Ernst Noack, der in Reinickendorf wohnte, um seine Eltern zu besuchen. Er hatte unter anderem zufällig ein Exemplar der Westzeitung Telegraf dabei. Allein aus dem Grund, daß er eine solche Zeitung in die damals sowjetische besetzte Zone eingeführt hatte, war das schon eine Straftat. Darüber hinaus wurde ihm gesagt, er solle mitkommen und die Aussagen von meinem Großvater bestätigen, dann könne er wieder nach Hause gehen. Meine Großmutter ist dann auch mitgekommen. Damals war diese Stelle, wo er dann zum Verhör gebracht wurde, gegenüber der Grundschule, ich glaube es war die Berliner Straße. Da war unten ein Büro des Politbüros oder so etwas ähnliches, und da hat er zuerst gesessen. Und da war die Großmutter zuerst auch dabei und hat ihren Kurt aber nicht mehr gesehen. Und da hat ein Beamter dann gesagt, sie solle doch nach Hause gehen, er käme heute nicht mehr wieder.

Kurt und Ernst Noack sind dann nach Sachsenhausen gekommen. Kurt Noack wurde nach Sibirien irgendwo am Baikalsee verschleppt, und Ernst Noack kam nach Bautzen. Nach welchem Zeitraum sie verschleppt wurden und aus welchem Grund sie getrennt wurden, kann ich nicht sagen. Es ist mir auch nicht bekannt, ob ein Gerichtsverfahren oder eine Verurteilung stattgefunden hat. Ernst Noack kam 1956 aus Bautzen zurück.

Später ist ein Herr gekommen, den ich nicht namentlich kenne und auch nicht sagen kann, wann er gekommen ist. Der hatte eine Art Spickzettel dabei, den man sich als Häftling untereinander in den Gefängnissen zusteckte, wenn einer entlassen wurde. Der hatte auf dem Papier den Namen und die Adresse und ist dann nach Hohen Neuendorf zu meiner Großmutter gekommen und hat gesagt, daß Herr Kurt Noack dort verstorben ist. Er ist wahrscheinlich durch die schwere Zwangsarbeit, er war immerhin schon 70 Jahre alt, verstorben. Was das für ein Lager war und welche Zwangsarbeit dort verrichtet wurde, kann ich nicht sagen.“11

1 https://www.dhm.de (Die Schlacht um Berlin 1945)
2 Chronik der Gemeinde Hohen Neuendorf
3 Ilse Semrau, Hohen Neuendorf, Scharfschwerdtstr. 2: Auskünfte zur Ortsgeschichte von Hohen Neuendorf
4 Protokoll über die Parteiarbeiter-Konferenz der Kommunistischen Partei, Ortsgruppe Hohen Neuendorf, am 13. Juli 1945
5 Ilse Semrau, Hohen Neuendorf, Scharfschwerdtstr. 2: Auskünfte zur Ortsgeschichte von Hohen Neuendorf
6 Herr Heinz Becker (Jahrgang 1890): 1945 wohnhaft in Hohen Neuendorf, Elfriedestraße 26 (2. Mai 1995)
7 Chronik der Gemeinde Hohen Neuendorf
8 Die Schweizerin Elfriede Siebert lebt in Hohen Neuendorf und verwaltet ab Februar 1945 das Haus ihres in die Schweiz übergesiedelten Sohnes, des Zahnarztes Gustav von Muralt. In dieser Zeit führt sie Tagebuch, das auszugsweise 1986 in der Schweizer Zeitung Die Weltwoche veröffentlicht wurde (Nr. 51 und 52, 19. und 26. 12. 1986). Die folgenden, einen Überblick über die Ereignisse und Einblicke in die Lebensumstände der unmittelbaren Nachkriegszeit (April bis Dezember 1945) gebenden Schilderungen entstammen (in wörtlicher Rede bzw. sinngemäß) diesen Aufzeichnungen. / Chronik der Gemeinde Hohen Neuendorf
9 Aus dem Leben des Arbeiterfunktionärs Otto Scharfschwerdt (Veröffentlichungen aus der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung des Kreises Nr. 1/1972)
10 Aus der (O)GPU wurde bereits 1934 der NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten). Im deutschen Sprachgebrauch wurde noch Jahre später (erst in Nazi-Deutschland, nach 1945 dann in beiden Teilen Dtl.) von der „GPU“ gesprochen, (OGPU = Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung, 1922-1934, Nachfolgeorganisation der Tscheka, 1917-1922).
11 Bericht von Heinz Noack, Enkel von Kurt Noack, über das Schicksal von Kurt Noack ab dem 21./22. April 1945 (29.12.1997)

Extreme Rechte in der DDR

– VON FRANK SCHUMANN , ANTIFASCHISTISCHES INFOBLATT, NR. 75, FRÜHJAHR 2007 –

Am Abend des 9. November 1989 hockte ich in Potsdam auf einem Podium. Neben mir saßen ein Vertreter der jüdischen Gemeinde, Heinz Vietze – vormals Jugendfunktionär, seit kurzem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung -, einige aufgeregte Jugendliche sowie Offizielle, an deren Namen und Amt ich mich nicht erinnere.

Anlass der kurzfristig anberaumten Diskussionsrunde, die, wie die meisten in jenen Wochen, in einem überfüllten Saal stattfand, war ein in jeder Hinsicht skandalöser Vorgang: Jugendliche hatten in der Bezirksstadt mit einer Lichterkette an das faschistische Pogrom vor 52 Jahren erinnert. Die Volkspolizei hatte sich etliche Mädchen und Jungen gegriffen und »zugeführt«. Die Begründung war formal-rechtlich korrekt, weshalb man sich ihrer offenkundig bis heute bedient: Die Demonstration war nicht angemeldet worden. Jedoch änderte dies nichts an der beschämenden Tatsache, dass eine eindeutig antifaschistische Bekundung von den Exekutivorganen eines antifaschistischen Staates unterbunden worden war. Das vor allem hatte nicht wenige in Potsdam aufgebracht.

Wie ist so was überhaupt möglich, wurde vornehmlich Vietze immer wieder gefragt, denn zu jener Zeit fühlte sich »die Partei« nicht nur für alles zuständig: Sie war es auch. Der Potsdamer Parteiobere mühte sich ehrlich (was wohl auch erklärt, weshalb er noch immer im Brandenburger Landtag sitzt). Er distanzierte sich von diesen Übergriffen, was seiner inneren Überzeugung zu entsprechen schien, und verwies darauf, dass in jeder Uniform auch nur ein Mensch mit Macken stecke. Mit dem Hinweis auf individuelle Besonderheiten hatte er zwar die Lacher auf seiner Seite, zumal man solch offenherzigen Bekundungen von hochrangigen SED-Funktionären bis dato nicht vernommen hatte. Doch jeder, der über den Tellerrand einer Volkspolizei-Schirmmütze hinausdachte, war sich bewusst, dass Vietzes Auskunft zwar nicht falsch war, jedoch nicht den Kern des Problems berührte.

Wir gingen gleichermaßen ratlos wie ermutigt (»Immerhin kann man jetzt darüber reden!«) auseinander. Ich fuhr mit meinem radiolosen Trabant über Teltow und Schönefeld nach Berlin-Mitte, wo die Redaktion der Jungen Welt ihren Sitz hatte. Als ich am Grenzübergang Oberbaumbrücke vorüberfuhr, nahm ich eine große Ansammlung wahr. Ich sah, wie sich Menschen krumm machten und andere auf ihrem Rücken irgendwelche Papiere ausfüllten. In der Redaktion saß die B-Schicht wie immer in ihrem Abteil und gab Meldungen für die Hauptstadtausgabe in Satz, auf dem Fensterbrett dudelte der Schwarzweiß-Fernseher. Ich fragte den B-Chef (der heute im Bundestag arbeitet), ob es etwas Besonderes gäbe und berichtete von meiner Beobachtung an der Brücke. Und der antwortete lakonisch, als teile er mir die Uhrzeit mit: »Die haben die Grenze aufgemacht.«

24 Stunden später saß ich zwischen 0 und 2 Uhr in einem Rundfunkstudio in der Nalepastraße zwischen den Chefredakteuren des DDR-Jugendfernsehens und von DT 64 und durfte live – dies betonte man immer wieder, was wohl die Erstmaligkeit des Vorgangs unterstreichen sollte – über die Konsequenzen der überraschenden Grenzöffnung meditieren. Unablässig wurden vermeintliche oder tatsächliche Hörerfragen hereingegeben. Ich gefiel mir in einer Außenseiterrolle, denn im Unterschied zu den anderen erklärte ich, dass der Mauerfall erstens das Ende der DDR bedeute und zweitens, dass jetzt auch dieser ganze unterschwellige nazistische Rotz hochkäme. In jeder Gesellschaft gäbe es einen braunen Bodensatz, auch in der unsrigen. Wir würden Zeugen eines Vorgangs werden, der vergleichbar wäre mit dem Zug einer Schleuse: Das angestaute Wasser würde hindurch schießen und den ganzen abgelagerten Dreck aufwirbeln, der schon immer, aber bislang unbemerkt, vor und hinter dem Wehr auf dem Grunde lagerte…

Diese Kassandra-Rufe entsprangen ausschließlich meiner Ratio. Emotional sperrte ich mich dagegen. Ich lief noch bis zum 3. Oktober 1990 zu jeder Demo, die sich für die Eigenständigkeit der DDR aussprach, obgleich doch der Drops längst gelutscht war, wie der Berliner sagt. Und jede Neonazischmiererei, jeder Fascho-Aufzug, jeder Heil-Ruf, jeder Hass- und Hetzbrief, der die Redaktion erreichte, wühlten mich trotzdem unverändert auf. Unter den rund 600 Zuschriften, die die Junge Welt täglich erhielt, gab es zunehmend auch solche. Doch das war nicht neu. Nur die Menge überraschte.

Anpassung und Ausbruch
Wer aufmerksam die DDR-Gesellschaft erlebte, dem konnten die stetigen Veränderungen insbesondere in den 1980er Jahren nicht entgehen. Vor allem unter den Jugendlichen. Das lag zwar in der Natur der Biologie. Aber eben nicht nur. Es hatte auch etwas mit dem normierten Dasein zu tun. Wenn ein junger Enthusiast meinte, er wolle der Weltrevolution voran helfen und darum als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen oder sich einer Befreiungsbewegung in Lateinamerika anschließen, hieß es strafend: Deine Barrikade ist die Drehbank! Die Revolution findet im sozialistischen Wettbewerb statt. Das geregelte, gesicherte Dasein war in diesem Alter nicht nur öde, sondern auch lähmend. Die geforderte Anpassung – ein Vorgang, der sich offenkundig wiederholt – provozierte auch den Wunsch nach auffälligen Ausbruch. Und zweifellos lieferte die Welt draußen dafür auch Anregungen, wie das geschehen konnte. Denn trotz Mauer und eingeschränkter Reisemöglichkeit tauchten auch die DDR-Bürger in den globalen Nachrichtenstrom ein. Diesen Umstand nahmen die DDR-Oberen als ausschließlichen Grund, daß es plötzlich hierzulande auch Punks, Popper, Red-Skins und Glatzen, Faschos und andere bunte Vögel gab. Sie interpretierten dies ausschließlich als Reflex auf auswärtige Entwicklungen, als modische Verirrung Heranwachsender und ungenügende »ideologische Arbeit« des Jugendverbandes. Kurz: als Westimport. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, daß dies sehr wohl auch etwas mit ihrer Politik und der inneren Verfassung der DDR-Gesellschaft zu tun hatte. Die utopische Vision, mit der die Gründergeneration der DDR einst aufgebrochen war – nämlich eine alternative Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Anpassungsdruck, von Bevormundung und Repression zu schaffen – hatte sich spürbar erledigt. Übriggeblieben war eine ums Überleben kämpfende arme Kleinbürgerrepublik, deren Führung glaubte, die reiche kapitalistische Großbürgerrepublik mit deren eigenen Waffen schlagen zu können. Das war nicht nur illusionär und weltfremd. Es verspielte auch Vertrauen in die Fähigkeit der Führungsmannschaft, das Staatsschiff zu steuern. Die Massenloyalität, von der die DDR in ihren ersten beiden Jahrzehnten durchaus getragen wurde, verlor sich bis zum Ende der 1980er Jahre gänzlich. Das ist in allen Untersuchungen des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung (ZU) dokumentiert. (Nicht grundlos schloss Honecker in den 70er Jahren das andere, beim ZK der SED angebundene Meinungsforschungsinstitut der DDR: Mit empirisch belegten Wahrheiten hatte er Probleme.) Zu dieser Wahrheit gehörte auch: Wie der deutsche Zwilling BRD war die DDR mit den Lasten der Vergangenheit geschlagen. Doch diese wurden noch potenziert mit den Belastungen der Gegenwart. Eigentlich führte die DDR von Anfang an einen Zweifrontenkrieg: gegen den Klassenfeind im Westen und gegen den großen Bruder im Osten. Da blieb zwangsläufig vieles liegen, auch manches, was zur geistigen Hygiene notwendig dazugehörte, was nun heute, nachdem die Schlacht geschlagen und verloren ist, billig konstatiert werden kann. Das vielleicht größte Manko war eine fehlende Dynamik auf den meisten Politikfeldern, die den Entwicklungen Rechnung trug. Der Reformstau ist nicht nur ein aktueller Begriff. Hinzu kam: Gesellschaftliche Probleme wurden nicht, wie erforderlich, politisch, sondern zunehmend repressiv gelöst. Diese Neigung scheint jedem politischen System innezuwohnen. Zum Versagen der DDR gehörte auch – und mit dieser Aussage sollen keineswegs etwa die beachtlichen Leistungen bei der künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur ignoriert werden -, nicht angemessen auf die Veränderungen reagiert zu haben, die sich zwangsläufig aus der Generationenfolge ergaben. Einem Heranwachsenden in den 1980er Jahren den Faschismus aus der Perspektive eines eingekerkerten antifaschistischen Widerstandskämpfers zu erklären, war so unwirksam und verhängnisvoll wie das Verschweigen, wie man hierzulande nach 1945 mit den Millionen Mitläufern und Mitmachern umgegangen ist. Denn die ehemaligen NSDAP-Mitglieder lebten nicht nur in Westdeutschland. Zweifellos kamen belastete Nazi- und Kriegsverbrecher in der DDR nicht zu bedeutenden Ämtern und anderen Ehrungen, und jene wenigen, die trotz brauner Vergangenheit eine gesellschaftliche Rolle spielten, räumte man das Recht auf Einkehr und Umkehr, auf eine Änderung der Überzeugung ein. (Diese zweifellos dem Menschen eigene Fähigkeit gestand man scheinbar jedoch nur den in der DDR Lebenden zu.) Antifaschismus als Haltung wurde von Staatswegen gefördert. Es war – anders als in der BRD – Staatsdoktrin und Verfassungsauftrag. Und er wurde von den meisten Menschen in der DDR auch individuell gelebt. Auf der anderen Seite stellte sich die Führung, die mehrheitlich im Widerstand, im KZ, in Zuchthäusern oder im Exil Faschismus und Krieg überlebt hatte, als die Inkarnation des Antifaschismus dar. Zweifellos verdiente die Tatsache, sich der Barbarei widersetzt und für deren Beendigung gekämpft zu haben, eine größere Beachtung und Würdigung als das Duckmäusertum von Millionen Opportunisten. Doch es entschuldigte nicht die Fehler und Irrtümer, die diese Menschen jetzt machten. Sie benutzten den Antifaschismus gleichsam als ihren Schutzschild, als Monstranz. Wer dagegen opponierte, musste mit heftiger Reaktion rechnen. An dieser Stelle reagierten sie besonders empfindsam. Das lud zwangsläufig zur Provokation ein. Und davon machten insbesondere Jugendliche zunehmend Gebrauch. Ich widerspreche darum entschieden der heute kolportierten Auffassung, dass die Ostdeutschen besonders anfällig für Nazi-Ideologie gewesen seien, weil sich im Grundsatz das Hitlerreich nur graduell von der Honeckerdiktatur unterschieden habe. Was jenem tradierten Argumentationsmuster entspricht, Kommunisten seien rotlackierte Faschisten. Wie passt dazu, dass sich unter den in der DDR auffälligen Neonazis auch ausgemachte Antikommunisten mit einem fest umrissenen Weltbild befanden? Der heute von ostdeutschen Neonazis gepflegte positive Bezug auf die DDR bezeugt weniger die Gleichheit der Kappen, sondern dient eher dem gleichen provokativen Zweck wie seinerzeit Hakenkreuz-Schmierereien und Heil-Geschrei. Der repressive Umgang damit offenbart die gleiche Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Politik.

Nebulöser Nationalismus
Und wenn es eben nicht bloße Provokation war? Woher rührten Ausländer- und Fremdenhass, dieser nebulöse Nationalismus, diese dumpfe Arroganz, die sich auf nichts gründete als auf die Herkunft? Weshalb waren einige plötzlich »stolz«, Deutsche zu sein, ohne auch nur annähernd die eigene wie die Geschichte der Nachbarvölker zu kennen? War dies nur billiger Reflex auf den propagierten Internationalismus, mit dem elegant die Frage umgangen worden war: Wie kann man die Völker der Welt lieben, aber das eigene nicht? Denn das deutsche Volk war gespalten worden von den Siegermächten. Und das wiederum war die Strafe für den Völkermord, den Nazideutschland begangen hatte. Die deutsche Teilung war, wenngleich keineswegs klaglos, in Ost wie West als Strafe der Welt angenommen worden. Doch anders als in der BRD und der dort betriebenen Westintegration blieb in der DDR mehr als nur ein diffuses Zusammengehörig-keits- und Nationalgefühl bestehen. Zumal man hier bis in die späten 1960er Jahre noch immer in der Nationalhymne sang: »Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland«. Bei allen Abgrenzungsschritten – inklusive des 1961 in Moskau angeordneten Mauerbaus – hielt Berlin an der Option eines Zusammenschlusses, einer Konföderation oder dergleichen, und an der Idee eines Fortbestandes der deutschen Nation fest. Der Bruch erfolgte erst mit Honecker. Der postulierte Mitte der 1970er Jahre die »sozialistische deutsche Nation der DDR«. Doch da hatte bereits die politisch-ideologische Erosion der DDR-Gesellschaft begonnen, die Nummer verpuffte wie so manch andere Propaganda-Blase. Als Journalist bei der Jugendzeitung war ich oft im Lande unterwegs, berichtete von Versammlungen, recherchierte eigene Geschichten, hielt selber Foren ab, ging Anregungen und Beschwerden nach – die damals Eingaben hießen und, vom Gesetz vorgeschrieben, binnen 14 Tagen zu beantworten waren. Und ich nahm auch an Verfahren teil, in denen über Jugendliche zu Gericht gesessen wurde. Sie waren wegen Rowdytum angeklagt, wegen Störung des sozialistischen Zusammenlebens und dergleichen, was soviel bedeutete: Sie tanzten aus der Reihe. Ich saß als Berichterstatter im Saal und fand bestätigt, was sich in manchem Leserbrief bereits angedeutet hatte. Zwischen jugendlichem Leichtsinn und naivem Unwissen wurden Haltungen sichtbar, die den vorherrschenden politischen Intentionen hierzulande fremd waren. Ungestümer Hass blitzte auf, eine Ablehnung jeglicher Spießbürger-Idylle, die über den üblichen Generationenkonflikt hinausging. Wo kam das her? Der Blick auf die Besucherbänke lieferte die Antwort. Dort saß der Mittelstand: Eltern und Verwandte. Der Mittelbau unserer Gesellschaft: Funktionäre, Staatsdiener, Lehrer, die Honoratioren des Städtchens. Geachtet und geehrt. Am 1. Mai standen sie auf der Tribüne und am 7. Oktober in der Zeitung. In der »Aktuellen Kamera« urteilten sie über unsere Errungenschaften und im »Neuen Deutschland« verurteilten sie in scharfen Worten die jüngsten Verbrechen des Imperialismus. Sie wussten, was man von ihnen erwartete. Sie waren schließlich gesellschaftliche Wesen. Doch wenn sie die Wohnungstür hinter sich schlössen, waren sie privat. Da hatten sie eine eigene Meinung. Da redeten sie Klartext. Und das bekamen ihre Kinder mit. Doch im Unterschied zu ihren Eltern beherrschten sie die Klaviatur der Heuchelei, der Anpassung und des Opportunismus (noch) nicht. Sie sprachen und handelten auch vor der Tür so, wie es ihre Alten nur dahinter taten. Der Spruch aus den frühen 1970er Jahren, der im Westen bei den Linken kursierte, erlebte seine Renaissance im Osten: Macht kaputt, was euch kaputt macht! Und damit kamen diese Jugendlichen (und nur um solche handelte es sich) zwangsläufig mit den Gesetzen der DDR in Konflikt. Als Rowdies, als Asoziale, als Gewalttäter und so weiter. Nie als Rechte oder Neonazis. Denn der Faschismus galt als mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Deshalb gab es auch keine rassistisch motivierten Übergriffe, keine antisemitischen Äußerungen, keine politisch motivierten Attacken auf andere Jugendliche. Es gab nur die stereotypen Deutungsmuster. Ein Aufblitzen »des Faschismus« hierzulande hatte es offiziell nur am 17. Juni 1953 gegeben und am 13. August 1961, als man den »antifaschistischen Schutzwall« in Berlin errichtete.

Mangelnde Auseinandersetzung
Faschismus aber war nicht nur laut Dimitroff »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«. Er wohnte rudimentär auch in Hirnen und Herzen von Millionen Menschen und überdauerte die Generationen. Noch Jahrzehnte nach Auschwitz arbeitete mancher gedankenlos »bis zur Vergasung« oder »fiel durch den Rost«. Noch immer war »der Iwan« doof und unkultiviert, klaute der »Zigeuner« und der »Itzik« betrog. Die Generalamnestie, mit der Mitläufer und Mittäter hinüber geholt wurden auf die Seite der »Sieger der Geschichte« (die es objektiv zu keiner Zeit geben wird, was aber mancher Westdeutsche noch immer nicht begriffen hat), war einerseits richtig, aber andererseits auch verhängnisvoll. Es verhinderte die fortgesetzt notwendige, aktive und kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in allen Bereichen der Gesellschaft. Dieses Versäumnis sollte sich in der DDR rächen. Und es rächt sich auch heute. Neonazismus ist zu allen Zeiten die Quittung für eine falsche Politik. Es scheint die vermeintliche Alternative, der Ausweg aus einem gesellschaftlichen Dilemma zu sein. Doch der ist eine Sackgasse wie die Losung »Weiter so!«, die die Herrschenden zu allen Zeiten im Munde führen. Egal, welche Fahne auf dem Rathaus weht.

Frank Schumann, Jahrgang 1951, von 1978 bis 1991 bei der Tageszeitung Junge Welt, zuletzt in deren Chefredaktion, seit 1991 Verleger und Publizist.

Neonazis in der DDR – Die Fan-Kurve wird zum Brutkasten der DDR-Neonaziszene

– VON DIETMAR WOLF, ERSCHIENEN IN ANTIFASCHISTISCHES INFOBLATT NR. 75 , FRÜHJAHR 2007 –

Die Anfänge neofaschistischer Organisierung in der DDR werden in der Regel auf die Jahre 1982/83 datiert. Doch schon in den Jahren zuvor kam es immer wieder zu rassistischen und ausländerfeindlichen Vorkommnissen. Die DDR war als Gesellschaft zu keiner Zeit frei von rassistischen Vorurteilen.

Im Gegenteil: Sie schürte sie selbst und bediente sich ihrer, indem sie zum Beispiel Menschen aus Afrika und Asien in die DDR zum arbeiten holte, diese aber ghettoisierte und aus der Gesellschaft fern hielt. Der gern bemühte Internationalismus war eine von vielen inhaltslosen Phrasen, die keinen wirklichen Weg in das Selbstverständnis der Menschen in der DDR fanden.

Unter dem Deckmantel der antiimperialistischen Solidarität mit dem palästinensischen Volk, wurden nicht selten antijüdische Vorurteile geschürt. Besonders in DDR-Medien fand sich immer wieder antiisraelische und antizionistische Propaganda. 1976 stellte der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldman fest: »Von allen kommunistischen Staaten verhält sich die DDR zweifellos am feindseligsten gegenüber Israel, und ihre Presse ist überaus aggressiv« 1 und so verwundert es nicht, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in den Jahren 1978 und 1979 188 Fälle von »… schriftlicher staatsfeindlicher Hetze mit faschistischem Charakter…« registrierte. 2

Doch kann man sagen, dass es ab dem Anfang der 1980er Jahre zu einem sprunghaften Anstieg von so genannter rechts motivierter Gewalt im öffentlichen Raum kam. Vor allem in den Fußballstadien setzten Jugendliche ihren Alltagsfrust in Gewalt um. Es wurden immer mehr Polizisten benötigt, die Stadien ruhig zu halten. Zu dieser Zeit tauchten die ersten Skinheads auf. So zum Beispiel beim Ostberliner BFC-Dynamo. Aber auch bei Lok Leipzig und Hansa Rostock. Nicht selten waren es Punks, die sich ihre Irokesen-Kämme abschnitten, weil ihnen diese Ausdrucksform nicht radikal genug erschien. Unbestritten war auch der Einfluss des Westens. Trotz der Mauer pflegten viele Menschen ihre familiären und freundschaftlichen Kontakte in den Westen. Modetrends wurden mit einiger Verspätung übernommen und beeinflussten die Jugend in der DDR. Bomberjacken und DocMartens waren für Ostler schwer zu haben und galten schnell als Statussymbole. Wer keine Westverwandschaft hatte, musste für eine Bomberjacke nicht selten bis zu 800 DDR-Mark berappen. Das waren damals ein bis zwei Monatslöhne. Machten die DDR-Skinheads zunächst durch eine besonders hohe Gewaltbereitschaft auf sich aufmerksam, wurde dies schnell mit faschistischer und rassistischer Ideologie verknüpft. Für die DDR war dies vollkommen neu. Die Gesellschaft und Elternhäuser erwiesen sich schnell als überfordert.

Der Organisationsgrad nimmt zu
Schnell wurden westdeutsche Neonazis auf die neue Szene im Osten aufmerksam. Besonders in Berlin gab es rege Aktivitäten. Zwar lässt sich nicht genau nachvollziehen wie intensiv diese Bemühungen waren, an die Strukturen im Osten heranzukommen. Immerhin gibt es einzelne Beispiele, die belegen, dass dies der Fall ist. So besuchte der damalige Chef der Westberliner nationalistischen Front (NF) Andreas Pohl, zwischen 1983 und 1985 regelmäßig Ostberliner Skinheads. Das MfS war in der gesamten Zeit an Pohl dran und seine umfangreiche Stasi-Akte belegt. dass Pohl intensiv versuchte, Einfluss auf die Ostberliner Neonazi-Strukturen zu bekommen. Im Jahr 1986 schrieb POHL im Informationsblatt der NF »Klartext«, vom »…festen Bündnis der Freundschaft, das sich leider, bedingt durch die Mordmauer, nur in Besuchen unsererseits ausdrückt…«.3 Auch Christian Franke von der Westberliner NF hielt persönliche Kontakte zu BFC-Skinheads. Viele Kontakte liefen über Skinheads die in den Westen übersiedelten. 1986 dann erließ das MfS ein Einreiseverbot für Andreas Pohl.

Laut einer Studie des MfS von 1988 gab es intensivste Kontakte zwischen Skinheads aus der DDR zu Neonazigruppierungen aus Westberlin, Hamburg und Schweden. Diese Kontakte dienten, laut MfS: »dem Informationsaustausch über tätliche Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit sowie Entwicklungen in der „Szene‘, der Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen und Bekleidungsstücken für DDR-Skinheads, der Einfuhr faschistischer Literatur, Symbole sowie spezieller Skin-Musik- Kassetten…« Allein im Jahre 1987 wurden 131 Skinheads aus Westberlin registriert, die in die DDR einreisten, um Kontakte zu DDR-Skinheads zu knüpfen und kontinuierliche Verbindungen herzustellen. 4

Ab Mitte der 1980er Jahre nahm der Organisationsgrad der Neonaziszene deutlich zu. Neben straff organisierten und geführten Fußballhooligangruppen, entstanden nun regelrechte Neonaziorganisationen. Bereits 1986 gründeten Ostberliner Skinheads die »Lichtenberger Front«, dann die »Bewegung 30. Januar« (in Anlehnung an die Machtübergabe an die Nazis am 30.Januar 1933). Diese Gruppe orientierte sich an der FAP und blieb in relativer Nähe zu Neonazis aus Westberlin. Sie betrieben intensive Suche nach alten Wehrmachtswaffen. Vorrangig auf dem Gebiet der Ende April 1945 tobenden Kesselschlacht um das brandenburgische Halbe. Diese Gruppe war maßgeblich an der Gründung der Ostberliner Neonazipartei »Nationale Alternative« und an der »Besetzung« des Neonazihauses in der Lichtenberger Weitlingstraße im Jahr 1990 beteiligt. Im Norden Ostberlins organisierte sich ab 1988 eine berüchtigte und straff geführte Schlägertruppe mit dem Namen »Bucher Front«. Sie verlegte sich mehrheitlich auf Überfälle und Gewaltaktionen gegen Ausländer, Punks und Gruftis.

Eine andere Gruppierung nannte sich »Die Vandalen« (eine Neonazigruppierung mit Rockerhabitus, die es noch heute gibt). Anfang Februar 1989 gründete sich im Raum Werder, Glindow, Caputh, im heutigen Land Brandenburg, eine Neonazipartei, die sich »Nationale Sammlung (NS)« nannte, Als Vorbild diente ein gleichnamiges Sammlungs- und Wahlbündnis, unter Führung des westdeutschen Neonazis Michael Kühnen. In der Ostsee- und Kreisstadt Wolgast im Bezirk Rostock wurde im August 1989 eine »SS-Division Walter Krüger« aufgedeckt. Diese widmete sich, nach eigenen Aussagen, intensiv der »Pflege faschistischer Traditionen, insbesondere der SS«. Die Gruppe war straff organisiert. Unter ihnen befanden sich, und das war neu, Lehrer und städtische Beamte. Laut interner Zahlen des MfS und der Volkspolizei wurden im Jahr 1988 185 Vorfälle mit rechtsradikalem Hintergrund registriert. Ein Jahr später waren es bereits 300.

Der Überfall auf die Zionskirche
Am 17. Oktober 1987 überfiel eine Gruppe Neonazis ein Rockkonzert in der Ostberliner Zionskirche. Sie grölten Naziparolen und schlugen auf Konzertbesucher und Passanten ein. Dieser Vorfall veränderte die öffentliche Wahrnehmung entscheidend. Waren bis dahin Skinheads in den Medien und öffentlichen Diskussionen quasi nicht vorhanden, änderte sich das nun grundlegend. Erstmals, nach einigen Tagen des Schweigens, las und hörte der erstaunte DDR-Bürger in verschiedensten DDR-Medien von so genannten Skinheads. Da es nicht mehr gelang das Thema wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen und selbst das SED-treue »Komitee der Antifaschisten« zaghaft staatliche Schritte forderte, wurde eine Handvoll, am Überfall beteiligter Neonaziskins eingefangen und vor Gericht gestellt und in zweiter Instanz zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Mehr noch: Es wurde nun versucht, das gesamte Problem mit harter Hand zu bewältigen. In einem Interview im Jahre 1992 berichtet der damalige Ostberliner Kriminalpolizist Bernd Wagner von einer »großen Skinheadjagd in Ostberlin«. 5 Allein zwischen Ende November 1987 und Juli 1988 fanden in der DDR mindestens neun Prozesse gegen so genannte »Skinheads« statt, in denen 49 Personen im Alter von 16 bis 25 Jahren wegen zahlreicher Gewaltakte und auch wegen Handlungen mit rechtsradikalem Hintergrund abgeurteilt wurden. Das Strafmaß belief sich meist auf Haftstrafen zwischen 5 Monaten und 2 Jahren in einem wenigen extremen Fall auch bis zu 6 Jahren. Jedoch wurde in allen bekannt gewordenen Prozessen ein neonazistischer oder rechtsradikaler Hintergrund verleugnet. Demzufolge kamen lediglich die Paragraphen 212 (Widerstand gegen staatliche Maßnahmen), 215 (Rowdytum) und 220 (öffentliche Herabwürdigung) des StGB zur Anwendung. Über die Wirkung der verhängten Strafen musste man sich jedoch keine Illusionen machen. Die Verurteilten kamen in den normalen DDR-Strafvollzug, wo nahezu nichts für eine erzieherische Beeinflussung und Reintegration der Gefangenen getan wurde. Und nicht selten wurde sich letztendlich dem Problem dadurch entledigt, dass die Neonaziskinheads nach ihrer Haftentlassung kurzerhand in den Westen abgeschoben wurden.

Gleichzeitig verfolgte man intensiv das Ziel, Skinheads aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Sämtliche öffentlichen Einrichtungen wie Jugendclubs, Diskotheken, Kneipen und Kinos erhielten intern die Anweisung, Skinheads und nach Skinhead aussehende Personen den Zutritt zu ihren Einrichtungen zu verweigern, sie nicht zu bedienen und im Weigerungsfall die Polizei zu verständigen.

Statt sich offen und ehrlich mit den Gründen und Ursachen des auf-kommenden Neofaschismus in der DDR zu befassen, beschränkte man sich mit propagandistischen Plattitüden und ausreden. So behauptete das Zentralorgan der FDJ »Junge Welt«, das vor allem der übermäßige Genuss des Westfernsehens Schuld an diesen Auswüchsen sei.

Neonazis und Skinheads im Visier der Sicherheitsorgane
Für die SED-Regierung waren die Sicherheitsorgane das einzig denkbare Werkzeug zur Zurückdrängung der Skinhead-Erscheinungen. Bis Anfang 1988 hatte man umfangreiches Daten-und Zahlenmaterial über die Skinheadszene angehäuft. Unzählige Berichte über Vorfälle mit Skinheads gesammelt. Jedoch wusste man nicht wirklich, mit wem man es zu tun hatte. Deshalb gab der Leiter der Kriminalpolizei im Ministerium des Innern (Mdl), Generalleutnant Nedwig im April 1988 bei der Sektion für Kriminalistik der Humboldt-Universität einen Forschungsauftrag zur Bestimmung des »politischen Wesens« der Skinheads in Auftrag. Mit dem Leiter der Uni-Sektion, einem Offizier im besonderen Einsatz (OibE), war auch das MfS mit im Spiel. Was diese Studie, die im Februar 1989 fertiggestellt wurde, zu Tage förderte, wollte den Verantwortlichen bei Polizei und MfS so gar nicht gefallen. So gehörten fast alle der erfassten Jugendlichen der Arbeiterschaft an. Die Hälfte davon hatten bereits Facharbeiterstatus. Die meisten waren im Alter zwischen 18 und 26 Jahren. Der soziale Status der Eltern hingegen war ein repräsentativer Querschnitt durch die Gesellschaft: Intelligenzler, Facharbeiter, Handwerker.

Am Ende der Studie hieß es: »…Wir haben es mit einer DDR-spezifischen Modifikation eines allgemeinen Problems der Auseinandersetzung mit Sozialismus und Demokratie zu tun. Die Sozialstrukturanalyse beweist, dass die tragenden sozialen Kräfte vorerst aus der jungen Arbeiterklasse kommen und durch bisher nicht identifizierte Schichten-Vertreter der Bevölkerung Unterstützung finden. Die militante rechtsextreme Szene in der DDR trat nie so offen aggressiv auf wie heute, auch gehörten Brandstiftungen und Morde nicht zum Alltag, aber die Wurzeln des Übergangs von einer rechten Jugendkultur zu einer organisierten rechtsextremen Bewegung lagen in der DDR in Mitte der achtziger Jahre…« 6

Was den Sicherheitsorganen weiter Kopfzerbrechen bereitete, war der Sachverhalt, dass sich diese Jugendlichen der »…moralischen Werte der sozialistischen Gesellschaft als Zielgröße…« bedienten. Eine wirkliche Ursachenanalyse gibt es in dieser Studie jedoch nicht. Hinzu kam, dass man in den Chefetagen kalte Füße bekam und tiefgreifendere Studien nicht wollte. Die Führung der Kriminalpolizei blockte die Studie ab. Der Leiter der Kriminalistiksektion wurde als Gesprächspartner abgelöst. Ihm wurde vorgeworfen, dass er »Im Hinblick auf Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremistische Tendenzen der Skinheads, (übertrieben)…« hätte.

Ersetzt wurde er durch einen Oberst Schmidt, dessen Zuständigkeit »Häufigkeits- und Jugendkriminalität« war. Dieser hielt von dem gesamten Projekt offenbar nicht viel. Im Zusammenhang mit geplanten Interviews mit inhaftierten Rechtsextremen erklärte er in der nächsten Sitzung zwischen Auftraggeber und -nehmer, dass Interviews mit Inhaftierten »nicht erforderlich« seien, »da die Verurteilen ja bereits kriminalistisch vernommen worden sind«. Darüber hinaus seien Untersuchungen seiner Ansicht nach überflüssig, da »bei Skinheads bisher keine politischen Motive nachweisbar gewesen« sind. Das Forschungsprojekt war damit gestorben. Ein letzter Versuch des Sektionsleiters, weitere Forschungen bei seinem Dienstherrn, dem MfS, anzusiedeln scheiterte. Auch der Stasi wurde die Sache offenkundig zu heikel. 7

Mdl und MfS setzten lieber auf Infiltration und eine verstärkte repressive Eindämmung der Symptome. Das geht aus einer Weisung von Mielkes »Stellvertreter Operativ«, Generaloberst Mittig hervor, die zusammen mit dem bereits erwähnten Untersuchungsbericht vom 2. Februar 1988 an die Bezirksverwaltung für Sicherheit geleitet wurde: »Zur weiteren Durchsetzung der Weisung (…) ist die inoffizielle Arbeit unter derartigen Jugendlichen wesentlich zu verstärken. (…) Durch die IM sind rechtzeitig alle Zusammenschlüsse derartiger Jugendlicher, ihre Pläne und Absichten zu öffentlichen, gefährliche Zusammenrottungen und Handlungen (…) derartiger Jugendlicher aufzuklären und jeweils aktive Gegenmaßnahmen (…) einzuleiten«. 8

So waren im Frühjahr 1988 allein in Berlin 33 inoffizielle Mitarbeiter des MfS in der Skinhead-Szene aktiv. Insgesamt waren etwa 10-15 Prozent der vom MfS erfassten Rechtsradikalen gleichzeitig inoffizielle Mitarbeiter. Dabei ging man nach üblichem Muster vor. Die IM wurden nicht eingeschleust, sondern es wurden Personen in der Szene durch Methoden der Erpressung und Versprechungen angeworben. Hinzu kam das übliche Verfahren der Postkontrolle, Telefonüberwachung usw.

Betrachtet man jedoch die Entwicklungstendenzen der DDR-Neonaziszene, wird offensichtlich, dass es der SED-Führung und speziell dem MfS und der Polizei nicht möglich war, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Andere Versuche zur Problemlösung waren die Einberufung zur Nationalen Volksarmee oder die schnelle Genehmigung von Übersiedlungsanträgen in die BRD. Gerade letzteres erwies sich jedoch in fataler Weise als Bumerang: »Einen Schwerpunkt gegnerischer Kontaktpolitik und Tätigkeit, insbesondere hinsichtlich der existierenden Verbindungen zwischen Skinheads in der DDR und denen im Operationsgebiet, hauptsächlich in West-Berlin, üben übergesiedelte ehemalige DDR-Skinheads aus. (…) Diese aktiven Rückverbindungen sind zunehmend und operativ bedeutsam«. Konnten die Sicherheitsorgane in der Zeit bis kurz nach dem Überfall auf die Zionskirche einige Erfolge erzielen, war jedoch spätestens ab 1988 ihre repressive Politik gescheitert. Dies kann man an der stetig ansteigenden Zahl von Neonazis bis Herbst 1989 ablesen.

Ein weiterer erschwerender Aspekt für das MfS war, dass die Deutsche Volkspolizei nicht das zu wünschende Engagement bei der Bekämpfung rechter Gewalt an den Tag legte. Anhand einer internen Information des MfS über einen Vorfall auf dem Berliner Alexanderplatz am 22. August 1988 ist dies gut ersichtlich. Nachdem es mehrere Tage hintereinander an der Gaststätte Alextreff zu Gewaltausbrüchen von Neonaziskinheads gekommen war, weil diesen der Kauf von Alkohol verweigert wurde, kam es an diesem Tag gegen 22.40 Uhr zu einem schweren Handgemenge mit uniformierten Armeeangehörigen. Als das VP-Revier 13 informiert und um Hilfe gebeten wurde, lehnte es diese ab. Die Weigerung wurde mit der Aussage: »Ihr wollt uns wohl verarschen! Wir sind doch nicht Eure Prügelknaben« begründet. Nach dem Überfall auf die Zionskirche wurde vom MfS schnell festgestellt und gerügt, dass die Polizei den Rechtsradikalismus nicht genügend ernst nimmt, dass die Kader ständig ausgewechselt werden, die jedes mal neu eingearbeitet werden müssen und dass bei der VP der notwendige Druck fehle, den das MfS zu mindestens in bestimmten Bereichen als notwendig erkannt hatte.

Auch so genannte gesellschaftliche Organisationen wie die FDJ taten sich schwer und waren nicht bereit sich des Problems der rechten Skinheads anzunehmen. So hatte das MfS im Sommer 1988 der FDJ-Bezirksleitung in Leipzig 83 Namen von Jugendlichen zukommen lassen, die ihrer Meinung nach »gefährdet« waren. Ein Jahr später hatten sie gerade Mal mit 20 dieser Jugendlichen gesprochen. Die FDJ redete sich damit heraus, dass sie keine Zeit gehabt hätten, da sie mit der Vorbereitung von gesellschaftlichen Höhepunkten zu sehr belastet wäre.

Allein der Umstand, dass sich die rechte Szene unter dem Druck der staatlichen Repression ab Mitte/Ende 1988 zu einem großen Teil aus der Öffentlichkeit zurückzog und sich in kleinen Gruppen intern weiter organisierte, reichte den Sicherheitsorganen als Bestätigung ihrer Praxis aus. Doch letztendlich musste sich auch das MfS das Scheitern seiner Praxis eingestehen. Ein leitender Offizier, verantwortlich für die Ermittlungsverfahren gegen die rechte Szene schrieb im Frühjahr 1989: »Es kann nicht alleinige Aufgabe der Untersuchungsorgane sein, sich mit der Bekämpfung dieser Erscheinungen auseinanderzusetzen. Das kann nur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, in der alle Erziehungsträger gefordert werden müssen.« 10 ———————————————————————————————————————- 1| Thomas Leusink: Vom Kampf gegen den »Kosmopolitismus«, tetegraph 2/3 1999, bzw. Goldmann, Nahum: Das jüdische Paradox: Zionismus u. Judentum nach Hitler. Köln, 1978
2| Neofaschistische Tendenzen und antifaschistische Selbstorganisation in der DDR, telegraph 1/1997
3| »Vom Skinhead zum Fascho«, Drahtzieher im braunen Netz, Berlin 1992 4| Interne Information der Hauptabteilung XX des MfS, Berlin 02.02
5| Farin / Seidel-Pielen »Rechtsruck – Rassismus im neuen Deutschland«, Berlin 1992
6| Loni Niederländer, Forschungsbericht »Das politische Wesen der Skinheadgruppierungen und ihre Sicherheitsrelevanz«; Humbodt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, 28. Februar 1989
7| Walter Süß, »Zur Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS«, Berlin 1996
8| Weisung vom »Stellvertreter Operativ« des Ministers Generaloberst Mittig vom 7.7.1986 (WS 68/86)
9| Geheime Information der Hauptabteilung XX des MfS vom 10.04.1989
10| Walter Süß. »Zur Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS«, Berlin 1996

Nazivergangenheit in der SBZ/DDR

Faschistische Vergangenheit in der DDR

In der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gab es nur eine einseitige Faschismusrezeption, die im Kern als Ursachen von Hitler, Holocaust und 2. Weltkrieg „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischsten, am meisten imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals“ ausmachte. Aus diesem Grund kann es nicht verwundern, daß es bis heute nie zu einer offenen Diskussion darüber kam, was in einem deutschen sozialistischem Staat nach dem deutschen faschistischen Staat, nach dem Holocaust, mit den in Deutschland lebenden deutschen Menschen passieren sollte. Hinzu kam, daß der sozialistische Staat auf deutschem Boden nicht durch eine Revolution, sondern vielmehr während der Besetzung der Roten Armee der Sowjetunion aufgebaut wurde.
weiterlesen …

Vom Faschist zum Antifaschist

BEISPIELE FÜR FASCHISTISCHE FUNKTTIONSTRÄGER, DIE IN DER DDR ZU NEUEN EHREN KAMEN.

Im Jahre 1948 verkündete die SMAD mit dem Befehl Nr. 64 das Ende der Enteignung und mit dem Befehl Nr. 35 das Ende der Entnazifizierung. Nach Einschätzung der Verantwortlichen war der „volkseigene Sektor“ vorerst groß genug, und andauernde Auseinandersetzungen in dieser Frage würden nur Unruhe ins Bürgertum tragen. Im Zeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges war das bündnispolitisch unerwünscht.
weiterlesen …

Das NKWD/SMAD-Lager Ketschendorf

Bereits ab Kriegsende wurden Speziallager der SMAD und des NKWD geschaffen, wo vor allem Kriegsgefangene, Naziverbrecher aber auch viele unschuldige interniert waren.. Diese Lager basierten auf Alliierten-Recht, nachdem in allen Besatzungszonen durch die Siegermächte Internierungslager errichtet werden durften, die für die „Aufbewahrung“ von Personen gedacht waren, die den „Aufbau“ der „neuen Gesellschaft“ stören könnten, bzw. verbrechen begangen hatten.
weiterlesen …